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BR24 Sport Funino, Zeitstrafen und Co.: Wie der Fußball modernisiert wird

Stand: 01.10.2023 22:06 Uhr

Mit der Einführung von Funino steht der Jugendfußball in Deutschland vor einer Revolution. Der Plan spaltet die Geister. Und auch andere Regeländerungen, die den Fußball verbessern sollen, treffen längst nicht nur auf Gegenliebe.

Von Raphael Weiss

Sandro Wagner gibt sich restlos überzeugt. In einem Video, das auf den Social-Media-Kanälen des DFB veröffentlicht wurde, präsentiert DFB-Nachwuchs-Sportdirektor Hannes Wolf dem mittlerweile zum Co-Bundestrainer beförderten Wagner das neue Nachwuchskonzept Funino. "Das ist ja absolut irre", sagt Wagner und: "Das macht mir sogar Angst, wenn man das so sieht, was man den Jungs genommen hat."

Funino: Schussgrenzen, vier Tore und jede Menge Ballkontakte

Gemeint ist: Was Kinder mit dem alten Jugendfußball verpasst haben – so wie fast alle, die mal im Verein gespielt habe, das Fußballspielen gelernt haben. Egal, ob aus ihnen Nationalspieler, Profis, Kreisliga-Kicker, Sportinvaliden oder Teammaskottchen geworden sind. Ab der G-Jugend (U7), der untersten Altersklasse, die auch "Pampersliga" genannt wird, spielten die Kinder sieben gegen sieben: Je sechs Feldspieler, ein Torwart und ein Tor, das er bewacht. Doch das ist spätestens ab der kommenden Saison Geschichte.

Bis einschließlich der E-Jugend (U11) werden durch eine Reform des DFB Kinder in Deutschland im Verein ab sofort auf eine völlig andere Art Fußball lernen und spielen. Funino heißt diese Spielform, die künftig in Vereinen in ganz Deutschland verpflichtend wird und schon jetzt breitflächig eingeführt ist. Kinder spielen ab sofort auf mehreren Feldern gegeneinander. In jüngeren Altersklassen Drei-gegen-Drei auf einem Feld mit vier Toren. Abschlüsse sind erst aus einer bestimmten Distanz erlaubt. Es gibt mehrere kurze Spiele. Gewinner steigen ein Feld auf, Verlierer ein Feld ab. Je älter die Kinder werden, desto größer werden die Mannschaften, Spielfelder und Tore. Auch Torhüter dürfen ab der F- und müssen ab der E-Jugend mitspielen.

Verschwindet nun der Vollspannschuss?

Der Gedanke dahinter, kleinere Felder, mehrere Spiele bedeutet: kaum Zeit auf der Ersatzbank, deutlich weniger Frustration und viel mehr Aktionen mit dem Ball. Pro Spieltag durchschnittlich 200 anstatt 50 pro Kind. Pro Jahr 20.000 anstatt 5.000. Pro Jugendlaufbahn 200.000 anstatt 50.000, rechnet Wolf im DFB-Video vor und fragt Wagner anschließend: "Wer von beiden ist der bessere Spieler?"

Für Wagner ist die Antwort klar. Andere sind davon allerdings nicht so überzeugt. Welches Kind bekommt in der E-Jugend dann plötzlich Lust, im Tor zu stehen? Wird die Mittelstürmer-Knappheit nicht noch mehr verschärft, wenn Deutschland sich auf Spielformen stürzt, die so sehr nach Tiki-Taka klingen und durch die Schussbegrenzung den Vollspannschuss quasi abschafft?

Und lernen die Kinder überhaupt, mit Niederlagen umzugehen. "Wenn wir Angst haben, dass ein Achtjähriger komplett aus dem Lebensgleichgewicht geworfen wird, weil er mal 5:0 mit seiner Mannschaft verliert, dann sagt das auch sehr viel über die deutsche Gesellschaft aus", sagte Hans-Joachim Watzke, Aufsichtsratschef der Deutschen Fußball Liga und Geschäftsführer von Borussia Dortmund, der das Konzept generell als: "Unfassbar und für mich nicht nachvollziehbar" bezeichnet.

Studien: Mehr Spielintelligenz und zufriedene Kinder

Wolf dankte Watzke für seine öffentliche Kritik und die daraus resultierende Debatte und verwies kürzlich in einer Pressekonferenz darauf, dass Kinder durch das Auf- und Absteigen in den Feldern sehr wohl den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage kennen würden. Der Kritik an Torwart- und Mittelstürmer-Armut dürfte er entgegnen, dass durch die Spielform mehr Kinder nachhaltigeres Interesse am Fußball haben werden. So, wie es mehrere Studien besagen. Die Talente dieser Kinder können demnach besser erkannt und geschult werden – eben durch die vielen Ballaktionen.

Tatsächlich geben mehrere Studien Wolf und dem Konzept recht: Kinder werden demnach auf dem Platz deutlich kreativer, treffen schnellere Entscheidungen. Die Quote der frustrierten Kinder nimmt ab. Doch tatsächlich werden Torhüterspezifische Fähigkeiten erst später ausgebildet und auch Vollspannschüsse müssen von Trainern in besonderen Trainingseinheiten erlernt werden. Generell soll sich die Rolle der Jugendtrainer ändern. Während der Spiele sollen die Kinder sich weitestgehend selbst überlassen werden und nicht durch Anweisungen von außen beeinflusst werden. Während des regulären Trainings kommt Trainern allerdings eine deutlich größere Rolle zu, weitere Fähigkeiten der Kinder zu entwickeln.

Sacchi und La Masia setzen auf Funino

Deutschland wagt diese Revolution keineswegs alleine. In Spanien ist das Spielsystem weit verbreitet. Der FC Barcelona greift in seiner Vorzeigeakademie La Masia seit mehr als 30 Jahren auf Grundgedanken von Funino zurück. In Italien ist auch durch Arrigo Sacchi die Spielform weitverbreitet. Und auch der englische Fußballverband beschloss nach einer tiefen sportlichen Krise, ähnlich wie sie Deutschland gerade erlebt, Funino zu empfehlen, auf ein Ligensystem zu verzichten und vorzugeben, dass an jedem Spieltag alle Spielerinnen und Spieler einer Mannschaft eingesetzt werden müssen.

BFV führt Zeitstrafen ein

Doch Funino ist derzeit zwar die meist diskutierte, doch bei weitem nicht das einzige Experiment, das den Fußball reformieren soll. In Bayern gibt seit der Saison 2022/23 für Schiedsrichter die Möglichkeit, im Amateurbereich bis hoch zur Regionalliga – egal ob Männer, Frauen oder Jugendliche auf dem Platz stehen – Zeitstrafen auszusprechen. Wobei diese Revolution eher ein Schritt zurück ist, als ein wirklicher Sprung nach vorne. Schon vor der Einführung der Gelb-Roten Karte 1991 durften Schiedsrichter Spieler bei Fehlverhalten für eine begrenzte Zeit auf die Bank schicken. Nun ist diese Option zurück. Zehn Minuten Pause gibt es für Fouls oder Unsportlichkeiten. "Für Vergehen, bei denen eine Gelbe Karte zu wenig, aber eine Rote Karte zu viel wäre, kann jetzt eine Zeitstrafe ausgesprochen werden", heißt es beim BFV.

Das Resultat: Nach ersten statistischen Auswertungen der abgelaufenen Spielzeit im Herren-Bereich zeigten die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter fast 41 Prozent weniger Gelb-Rote Karten (minus 5280) als noch in der Saison 2021/22. Die Zahl der Roten Karten sank im gleichen Zeitraum um 295 und lag damit um knapp fünf Prozent niedriger, heißt es in einer Mitteilung des BFV.

Abseits entschärfen und Nettospielzeit einführen?

Doch auch auf der ganzen Welt werden neue Regeln und Regularien getestet, um den Fußball attraktiver, schneller, gerechter oder sicherer zu machen. So testet der Weltverband FIFA aktuell eine neue Abseitsregel, die die französische Trainerlegende Arsène Wenger angeregt hatte: Ein Spieler soll sich künftig nur im Abseits befinden, solange sich noch ein Körperteil, mit dem ein Tor erzielt werden kann, auf gleicher Höhe mit dem vorletzten gegnerischen Spieler befindet. Bislang steht ein Spieler im Abseits, wenn nur eines dieser Körperteile näher am Tor ist als der vorletzte Gegner.

Nutznießer der Regel wären die Angreifer – und laut Wenger auch die Fans, denn die würde dadurch mehr Tore sehen. Ob es auch so kommt, hängt auch von den weltweiten Tests ab, die unter anderem im Jugendbereich in Italien durchgeführt werden. Zudem erwägt der Weltverband scheinbar die Einführung einer Nettospielzeit. Bedeutet: Bei Spielunterbrechungen wird auch die Uhr angehalten. So könnte die Spielzeit deutlich erweitert werden. Aktuell liegt die effektive Spielzeit in der Bundesliga bei 53:19 Minuten.

Keine Kopfbälle mehr für Kinder

In den USA und auch in England werden im Jugendbereich künftig keine Kopfbälle mehr trainiert. Kinder bis zu zehn Jahre sollen dadurch vor Schäden in der kognitiven Entwicklung bewahrt werden. In Punktspielen bleiben die Kopfbälle allerdings erlaubt. Der DFB will bislang nicht so weit gehen. Bisher spricht er nur eine Empfehlung aus, möglichst wenig auf das Kopfballspiel zurückzugreifen. Ein Verbot lehnt der DFB allerdings ab.

Die letzte große Revolution hieß VAR

Ob und wie diese vielen Revolutionen tatsächlich den Fußball und die Fußballer besser machen, wird erst die Zeit zeigen. Die letzte große Revolution im Fußball war die Einführung des Videoschiedsrichters. Eine Entscheidung, die bis heute gespaltene Reaktionen hervorruft. Während die meisten Schiedsrichter den VAR befürworten, wird er bei Fans mehrheitlich kritisch gesehen. So bewerteten in einer kicker-Umfrage 2022 mehr als 70 Prozent die Einführung als "schlecht" und auch Fan-Organisationen würden ihn am liebsten wieder abschaffen. "Der geringe Gewinn an mehr Gerechtigkeit steht in keinem Verhältnis zum Verlust an Emotionen", sagte "ProFans"-Sprecher Sig Zelt der dpa.

Bis es breite Kenntnisse darüber gibt, wie die Einführung von Funino den Fußball in Deutschland verbessert haben wird, wird es noch viele Jahre dauern. Erste Startschwierigkeiten, weil Vereine beispielsweise nicht das benötigte Equipment besitzen, stehen teils begeisterte Eltern und Jugendtrainer gegenüber. Sollte sich bei der WM 2034 eine neue Generation spielfreudiger Strassenkicker zum Titel tricksen, würde wohl selbst Hans-Joachim Watzke seine Kritik wieder zurücknehmen.

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Quelle: BR24Sport 26.09.2023 - 18:30 Uhr