
Geschke im Bergtrikot der Tour Nicht chic, aber mit viel Prestige
Simon Geschke erobert das Bergtrikot der Tour de France. Es ist ein weiterer Erfolg für einen Radprofi, der seine Gelegenheiten zu nutzen weiß.
Gelb ist die Farbe der Tour de France. Doch entlang der Strecke überwiegt nicht etwa das Sonnengelb des Führungstrikots. Dort tragen erwachsene Männer und Frauen genau wie Kinder viel lieber ein weißes T-Shirt mit roten Punkten.
Der Sponsor des Bergtrikots bringt die billig produzierte Ware massenhaft unters Volk, Stunden bevor die Radprofis vorbeikommen. Und - man kann es nicht anders sagen - die Leute reißen sich darum.
Geschke kennt seine Möglichkeiten
"Ich würde mir kein T-Shirt kaufen, das so aussieht", hat Simon Geschke gesagt, als er in Châtel Les Portes du Soleil nun genau so gekleidet wie die vielen Menschen am Streckenrand seine Interviews hinter dem Podium gab. "Aber das Radtrikot ist eines der schönsten, die es gibt. Es hat einen Prestigewert im Radsport." Geschke (36) trägt nun also das Bergtrikot bei der Tour de France. Er ist der achte deutsche Radprofi, der das Maillot à pois tragen darf, das erst 1975 als Wertungstrikot eingeführt wurde.
Der Berliner ist ein Fahrer, der seine Möglichkeiten sehr genau kennt. Er weiß, dass er im Hochgebirge nicht mit den Besten mithalten kann. "Da habe ich meine Limits", sagt er. Aber er weiß genau, wann es sich lohnt, viel Energie zu investieren. Dann nämlich, wenn sich besondere Gelegenheiten auftun, die seinen Fähigkeiten entgegenkommen.
Bergtrikot mit Ansage
So war es 2015, als er in Pra Loup eine Bergetappe der Tour im Alleingang gewann. Und eine solche Gelegenheit bot sich nun auch auf der 9. Etappe am Sonntag (10.07.2022). "Das Trikot war wirklich ein erklärtes Ziel von mir", berichtete er. "Ich habe heute Morgen im Bus schon gesagt, dass ich es unbedingt versuchen will, weil für mich solche Tage wie heute einfach die größten Chancen sind."
Also legte sich Geschke einen Plan zurecht. Dafür musste er es zunächst in die Ausreißergruppe schaffen. Schon das ist bei der Tour kein leichtes Unterfangen. Man muss die richtigen Attacken mitgehen, ein Gespür für den entscheidenden Moment haben.
Dass Geschke diesen Instinkt besitzt, hat er schon oft bewiesen. Zuletzt auf der 7. Etappe nach La Super Planche des Belles Filles. Auch da gehörte er zu den Ausreißern und wurde später von einer Jury zum kämpferischsten Fahrer gewählt. Einen "Trostpreis" nannte er die Auszeichnung danach.
Mit vier Punkten in den Tag
Aber sein Engagement am Freitag kam ihm nun auf dem Weg ins Bergtrikot doch noch zugute. "Vor zwei Tagen habe ich schon vier Punkte gesammelt, also hatte ich einen kleinen Headstart vor den anderen, die noch keine Punkte hatten. Und es hat zum Glück gereicht", erklärte Geschke.
Es war in der Tat ein knappes Unterfangen. Vier Bergwertungen warteten auf den 192,9 Kilometern von Aigle nach Châtel auf die Fahrer. Den ersten und einzigen Punkt am Côte de Bellevue sicherte sich der Spanier Jonathan Castrovejo. Am nächsten Anstieg, dem der Kategorie zwei zugeordneten Col des Mosses, nahm Geschke als Zweiter auf dem Gipfel drei Punkte mit.
Es folgten zwei Anstiege der ersten Kategorie, wo der erste auf dem Gipfel zehn Punkte bekommt. Der spätere Etappensieger Bob Jungels attackierte am Col de la Croix früh. Geschke wartete eine Weile und stieg dann hinterher, um den Luxemburger noch rechtzeitig vor der Bergwertung zu überholen. "Das hat viel Kraft gekostet", berichtete er später.
"Ich musste sehr, sehr tief gehen"
Mit 17 Punkten fuhr er in diesem Moment schon virtuell im Bergtrikot. Doch Jungels, der sich als Zweiter auf dem Col de la Croix noch acht Punkte gesichert hatte, attackierte auf der Abfahrt noch einmal, und fuhr danach Solo seinem Tagessieg entgegen inklusive zehn weiteren Bergpunkten auf dem Pas de Morgins.
Geschke musste nun also mindesten zwei weitere Zähler holen, um das Trikot doch noch zu übernehmen. Am letzten Anstieg zerfiel der Rest der Ausreißergruppe, während von hinten die Gruppe um das Gelbe Trikot von Tadej Pogacar heranrauschte.
Dazwischen Geschke, der den Gipfel unbedingt als Fünfter erreichen wollte, um sich die zwei Punkte zu sichern. "Da musste ich sehr, sehr tief gehen, um die Gruppe der Favoriten hinter mir auf Distanz zu halten", sagte Geschke. "Sonst wäre halt alles für die Katz gewesen."
Die Angst vor dem positiven Corona-Test
Mit 19 Punkten liegt Geschke nun einen Zähler vor Jungels im Bergklassement. Am Dienstag, auf der 10. Etappe, wird er sich nun in dem nicht chicen, aber prestigeträchtigen Trikot mit den roten Punkten neben Tadej Pogacar in Gelb und Wout van Aert in Grün in der ersten Reihe am Start in Morzine aufstellen.
"Es sei denn Corona macht mir einen Strich durch die Rechnung", sagte Geschke. Ein durchaus denkbares Szenario, nachdem Geschkes Teamkollege Guillaume Martin nach einem positven Corona-Test, am Sonntag nicht mehr am Start stand. Am Ruhetag werden alle im Rennen verbliebene Fahrer auf Corona getestet. "Die Angst ist da. Keiner ist davor sicher. Guillaume saß im Bus neben mir. Wir werden mal sehen, wie der Test jetzt ausfällt. Vielleicht fahre ich dann im Trikot nach Hause."
"Glücklich und dankbar"
Der Augenblick auf dem Podium, in dem er sich das Trikot überstreifen durfte aber wird so oder so bleiben. Es ist nach seinem Etappensieg vor sechs Jahren der zweite große Moment den Geschke bei der Tour de France erleben durfte.
"Der Etappensieg bleibt für immer. Das Bergtrikot bleibt auch für immer, wenn man es in Paris trägt. Aber da sehe ich mich jetzt noch nicht", sagte Geschke. "Es ist auf jeden Fall eines meiner Saison-Highlights. Hier jetzt bei der Tour im Bergtrikot zu stehen, schafft auch nicht jeder in seiner Karriere. Insofern bin ich jetzt erstmal glücklich und dankbar." Dafür darf man dann auch mal einen modischen Aussetzer in Kauf nehmen.