Tour de Suisse 2022

Viele Radprofis simulieren Höhentraining Sauerstoffzelte - dünne Luft für ein paar Watt mehr

Stand: 29.06.2022 08:59 Uhr

Sauerstoffzelte zur Simulation von Höhentraining sind im Elitesport und auch im Radsport weitverbreitet. Nur Sportler weniger Länder dürfen sie nicht nutzen. Dort gilt das als Doping.

Dünnere Luft sorgt für mehr Leistung. Wenn der Körper weniger Sauerstoff aufnehmen kann, weil weniger davon in der Atemluft existiert, reagiert der Organismus. Mehr rote Blutkörperchen werden gebildet. Und der Effekt hält auch an, wenn der Körper sich wieder in einer Normalumgebung aufhält. Dann sorgt das Mehr an roten Blutkörperchen für mehr Sauerstoff - und damit für mehr Leistung. Der Effekt ist durch Studien nachgewiesen. Deshalb trainieren Ausdauerathleten gern in der Höhe, oder sie schlafen zumindest in der Höhe für die Ankurbelung der Produktion der Retikulozyten (junge rote Blutkörperchen) und trainieren auf Meereshöhe, um mehr Leistung zu erzeugen.

Ganze Hotelanlagen wurden dafür gebaut, etwa das Hotel Syncrosfera im spanischen Denia. Eingerichtet wurde es vom früheren Radprofi Alexander Kolobnev. Viele Radsportteams buchen dort Zimmer, in denen Luftbedingungen wie in der Höhe hergestellt werden können. Der aktuelle Stundenweltrekordler Victor Campenaerts vom Rennstall Lotto Soudal verbesserte dort schlafend seine Blutparameter. Auch Alpecin Fenix, das Team um Superstar Mathieu van der Poel, nutzte die Zimmer mit künstlich dünner Luft. Publik wurde das, weil sich ein Profi des Rennstalls bitterlich beschwerte, dass ihm das verwehrt worden sei.

Widersprüchliche Antidopingregeln

Stefano Oldani beklagte sich nach dem Gewinn einer Etappe beim Giro d’Italia, dass er sich mühsam auf dem Vulkan Ätna den Überschuss an roten Blutkörperchen zulegen musste, während seine Teamkollegen im spanischen Hotel munter TV-Serien konsumieren konnten und den gleichen Effekt hatten. "Das ist nicht gerecht. Da muss sich etwas ändern", forderte er. Tatsache ist, in Italien sind sogenannte Sauerstoffzelte - Fachbegriff: Hypoxiezelte -  verboten. Das Gesetz 376/2000 sieht sie als Bestandteil einer verbotenen Methode. Denn Blutparameter werden künstlich verändert - durch einen Kompressor, der für verdünnte Luft in einem Raum oder einem Zelt sorgt.

Sauerstoffzelte - eigentlich "Sauerstoffmangelzelte", wie der Verbandsarzt des Bundes Deutscher Radfahrer, Matthias Baumann, gegenüber der Sportschau präzisiert - gelten dem italienischen Gesetzgeber als "verbotene Methode", als Doping. Wie auch die Einnahme von Epo. Das Medikament stimuliert ebenfalls künstlich die Produktion von roten Blutkörperchen. Deshalb war es, bis zur Entwicklung einer wirksamen Nachweismethode im Jahr 2000, auch bewährter Bestandteil von Dopingprogrammen im Hochleistungssport.

Epo-Einnahme ist als Doping verboten, auch von der WADA. Hypoxiezelte sah das Ethikkomitee der Welt-Anti-Doping-Agentur bei einer Anhörung im Jahr 2006 zwar als "auf moralischer Ebene nicht im Sinne des Sports" an. Das Exekutivkomitee der WADA konnte sich zu einem Verbot aber nicht durchringen. Die obersten Antidopingjäger überließen es den einzelnen Staaten, den Fall zu regeln. Italien verbietet es, die meisten anderen Länder nicht.

Weitverbreiteter Gebrauch

"90 Prozent im Peloton nutzen das. Nur wir Italiener dürfen nicht", beschrieb Oldani die Situation. Tatsächlich werden Sauerstoffzelte im Radsport viel genutzt, auch in den Reihen des BDR, wie Verbandsarzt Baumann gegenüber der Sportschau bestätigt. "Das beste Beispiel ist Lisa Brennauer. Die macht das schon länger", verwies er auf die Olympiasiegerin und Weltmeisterin auf Bahn und Straße. "Es gibt sogar schon Versionen, bei denen du gar nicht mehr in ein Zelt musst, sondern nur den Kopf hineinsteckst in eine Art Haube", erklärt Baumann. Er selbst kennt es von Höhenbergsteigen: "Man kann das nutzen, um sich bereits zu Hause an die Höhe zu akklimatisieren. Die Zelte kann man auf bis zu 6.000 Meter Höhe hochfahren."

Lisa Brennauer bei der Tour de Suisse

Olympiasiegerin und Weltmeisterin Lisa Brennauer

Im Radsport sind Höhen zwischen 1.800 und 2.300 Meter üblich. Das bestätigt auch Dan Lorang, Trainer beim Rennstall Bora hansgrohe. Für ihn machen Sauerstoffzelte vor allem als Ergänzung zum Höhentraining Sinn.

Höhensimulation plus Höhentraining

"Man kann sich damit zu Hause bereits auf die Höhe vorbereiten. Auch zwischen zwei Höhentrainingslagern bietet sich das an, um die Effekte zu verlängern. Ein Vorteil ist auch, wenn man von einem Wettkampf kommt, nach dem man sich regenerieren muss, kann man tiefer einsteigen, bei 1.500 Meter vielleicht, um später zu erhöhen. Draußen ist das logistisch schwieriger, man müsste ja das Hotel wechseln", erklärt er der Sportschau. Allerdings haben die Zelte auch Nachteile. "Der Kompressor kann ganz schön laut sein. Man muss auch aufpassen, dass die Schlafqualität nicht leidet - und damit die Nachteile gegenüber den Vorteilen überwiegen", warnt Lorang.

Der modernen Trainingslehre, die ein Schlafen in der Höhe wegen der Effekte auf die Retikulozytenproduktion, aber ein Trainieren im Flachen wegen der dort erreichbaren höheren Leistungen vorsieht, kommen Sauerstoffzelte oder Sauerstoffkammern wie im Hotel Syncrosfera natürlich entgegen. Denn die Höhe ist ja nur simuliert. Verlässt man die Kammer, trainiert man im Flachen.

Das Höhentraining selbst ersetzt das Sauerstoffzelt aber nicht. Denn Stressfaktoren wie das tägliche Leben zu Hause können die Effekte begrenzen. "Im Höhentrainingslager konzentriert man sich ausschließlich auf das Training. Nutzt man ein Sauerstoffzelt zu Hause, können da Ablenkungen hinzukommen. Das kann eine Rolle spielen", meint Lorang. Profis, die er betreut, nutzen in einer Saison im Schnitt drei Mal Sauerstoffzelte über eine Dauer von sieben bis zehn Tagen, ergänzend zum Höhentraining.

Moralischer Graubereich, Kontrolle nicht realistisch

Als Doping sehen weder Lorang noch BDR-Arzt Baumann die Zelte. Denn es wird schließlich nur die Umgebung geändert, in der der Sportlerkörper sich aufhält. Die "Arbeit", also die Produktion der roten Blutkörperchen, übernimmt der Körper ja selbst. Und anders als bei Epo, das ähnlich wirkt, wird in diesem Falle dem Körper nichts von außen zugeführt.

Auch aus diesem Grunde setzte die WADA bislang Sauerstoffzelte nicht auf die Dopingliste. Die Internationale Testagentur ITA, die die Dopingtests bei der Tour de France durchführt, sah auf Anfrage der Sportschau ebenfalls keinen Handlungsbedarf. "Wenn, dann ist das eine Sache der WADA. Wir nehmen bei der Auswertung der Tests für den individuellen Blutpass lediglich als Information auf, ob jemand in der Höhe trainiert oder ein Hypoxiezelt benutzt hat und speisen das in die Analyse ein", teilte Olivier Banuls, Leiter des Testprogramms für den Radsport, mit.

Weil die Zelte in Italien verboten sind, achtet Bora-hansgrohe streng darauf, dass die italienischen Profis des Teams diese Zelte nicht benutzen. Allerdings ist die Benutzung der Zelte schwer nachzuweisen. Wer kann - und will - schon überwachen, ob ein Sportler zu Hause ab und an in einem Zelt nächtigt oder gar nur den Kopf stundenweise in eine Sauerstoff reduzierte Haube steckt? Wohl auch deshalb scheut die WADA bislang vor einem Verbot zurück. Die Leidtragenden sind die Sportler, die unterschiedlichen Gesetzgebungen ausgesetzt sind, abhängig von den Ländern, aus denen sie kommen.