Radsport | Klassiker Mailand - Sanremo: Entscheidung an der Cipressa

Stand: 17.03.2022 11:35 Uhr

Tadej Pogacar kündigt eine ungewöhnlich frühe Attacke beim Frühjahrsklassiker Mailand Sanremo an. Seine aktuelle Form weist darauf hin, dass es keine leere Drohung ist.

Von Tom Mustroph

Tadej Pogacars Augen blitzten, als er kürzlich auf einer Pressekonferenz ankündigte: "Eine frühe Attacke bei Mailand – Sanremo, das wäre doch was."

Konkret meint er: Eine Attacke an der Cipressa. Gewöhnlich werden an dem Hügel 21 Kilometer vor dem Ziel die Kräfte getestet für den Poggio, den letzten, ikonischen Anstieg bei Mailand – Sanremo.

Am Poggio, etwa sechs Kilometer vor dem Zielstrich, versuchen kletterstarke Männer den Sprintern die letzte Luft zu nehmen. Meist misslingt dies und die Sprinter setzen sich trotzdem durch. In diesem Jahr aber stehen die Zeichen auf Veränderung.

Pogacar, zweifacher Tour de France-Sieger, ist in diesem Frühjahr aber so stark, dass er mit diesen Traditionen aufräumen und schon früher die Entscheidung suchen könnte.

Pogacars Konkurrenz hält das sogar für wahrscheinlich. "Ja, es könnte eine Attacke von Pogacar dort geben", meint Primoz Roglic. Und unternehmungslustig wie sein slowenischer Landsmann kündigte der dreifache Vuelta-Sieger an: "Genau  dafür bin ich bereit."

Erdrückende Dominanz

1996 gab es zuletzt eine erfolgreiche Attacke an der Cipressa. Der Italiener Gabriele Colombo war in einer vierköpfigen Ausreißergruppe der Außenseiter der Schnellste.

In diesem Jahr wären es nicht die Außenseiter, die so früh davonfahren, sondern die dominierenden Männer der vergangenen Jahre. Die Form der beiden ist extrem gut. Pogacar gewann in einem beeindruckenden Soloritt die Strade Bianche und sicherte sich ähnlich überzeugend die Gesamtsiege von UAE Tour und Tirreno Adriatico.

Dort ließ er die Konkurrenz atemlos staunend zurück. "Für uns war das Tempo schon hart, als er am Samstag bei der Königsetappe attackierte. Aber er fuhr einfach davon. Niemand konnte reagieren. Er ist ein Level über uns", meinte Ineos-Profi Richie Porte.

Roglic ähnlich dominant bei Paris - Nizza

Ähnliches vermeldete der Brite Simon Yates vom Auftritt Roglic' bei Paris – Nizza. "Wir alle schnaufen wie auf dem Totenbett und er muss nicht mal richtig tief durchatmen", sagte der Augenzeuge von Roglic' Antritt ebenfalls am letzten Samstag bei der Königsetappe dieses Rennens.

Roglic scheint der Einzige, der gegenwärtig eine Attacke Pogacars überhaupt parieren könnte. Eine Neutralisierung Pogacars würde jedenfalls den Weg bahnen für einen Erfolg von Wout Van Aert, Teamkollege von Roglic und SanSanremo-Sieger 2020. Die Jumbo – Visma-Profis gelangten bei Paris – Nizza gleich zwei Mal zu dritt auf das Siegerpodium nach einer Etappe.

Einmal komplettierte der Franzose Christophe Laporte, wie seine Kapitäne Roglic und Van Aert für Sanremo gemeldet, die ZeSanremonie. Ein paar Tage später gesellte sich Rohan Dennis zu beiden. Die mannschaftliche Stärke von Jumbo – Visma ist ähnlich beeindruckend wie das Können Pogacars.

Die Angst der Sprinter

Den klassischen Sprintern graust es vor dem diesjährigen Klassiker. "Ich denke, die Cipressa wird entscheidend in diesem Jahr. In den letzten Jahren war es da schon schnell, aber nicht furchtbar für uns Sprinter. In diesem Jahr könnte sich das aber ändern", fürchtet Giacomo Nizzolo, Kapitän von Israel Premier Tech, und damit Teamkollege von Rick Zabel, dem Sohn des vierfachen Sanremo-Triumphators Erik Zabel.

Selbst beim gewöhnlich dominierenden Klassiker-Rennstall Quick Step Alpha Vinyl sind die Erwartungen gedämpft. "Pogacars Team UAE Emirates wird schon bei den Anstiegen vor der Cipressa als geschlossener Block vorfahren. Pogacar wird dann attackieren. Einige wenige werden ihm folgen können. Aber für die Sprinter wird Mailand – Sanremo in diesem Jahr sicher nichts werden", meinte Davide Bramati, sportlicher Leiter von Quick Step, zur Sportschau.

Seinen Top-Sprinter Mark Cavendish, Sanremo-Sieger 2009, lässt der Rennstall deshalb gleich zu Hause. Der interne Sprintrivale Fabio Jakobsen, sechs Saisonsiege bislang, ist nur zum Lernen da. Weltmeister Julian Alaphilippe, Sieger 2019 und aufgrund seiner Angriffslust perfekt in ein Cipressa-Szenario passend, steht dem Rennstall wegen einer Bronchitis nicht zur Verfügung.

Fast Man Standing: Caleb Ewan

Der einzige Weltklassesprinter, der seine Ambitionen noch nicht dämpft, ist Caleb Ewan. "Ich habe im Winter weiter an meinen Kletterfähigkeiten gearbeitet. Ich bin im letzten Jahr gut über Poggio und Cipressa gekommen. Ich bin zuversichtlich, dass ich auch in diesem Jahr vorn dabei sein kann", meinte der Vorjahreszweite aus Australien zur Sportschau.

Entscheidend für ihn wird sein, wie weit vorn ihn sein Team Lotto Soudal, unter anderem mit Ex-Weltmeister Philippe Gilbert und dem Berliner Roger Kluge, in die Anstiege hineinfahren kann.

Degenkolb verpasst den Auftakt

Die einzige zarte deutsche Hoffnung beim Frühlingsrennen ruhte auf John Degenkolb, der zum Team DSM zurückgekehrt ist. Allerdings verpasst der deutsche Routinier das Rennen auf Grund einer Grippe.

Er wird also nicht Teil einer Gruppe sein, die versuchen wird bei den Anstiegen so gut platziert zu sein, dass sie sich mit einem größeren Schwung Fahrer an Pogacar und Co. heranhängen könnten.

Je größer diese Gruppe ist, desto geringer wird die Lust des Slowenen, weiter Kraft zu investieren. Dann könnte das Feld doch wieder zusammenrutschen und die klassischen Szenarien aktuell werden. Klar ist nur eines: Der Sieg in Sanremo wird über den Tour-de France-Sieger Tadej Pogacar gehen.