Vor Finnland gegen Russland Finnlands EM-Traum - die große Chance des Außenseiters

Stand: 15.06.2021 11:47 Uhr

Der finnische Auftaktsieg gegen Dänemark war überschattet von der Beinahe-Tragödie um Christian Eriksen. Jetzt aber bietet sich den Finnen die Chance zur ganz großen sportlichen Überraschung. Gegen Russland scheint alles möglich.

"Wir sind keine Scheiß-Mannschaft. Wir sind nicht so schwach, wie man denkt. Wir können auch einen großen Gegner schlagen" - mit diesen markigen Worten hatte Finnlands Nationaltorwart Lukas Hradecky unmittelbar vor der EURO Kritiker gekontert, die Finnland bei dem Turnier als chancenlos bezeichnet hatten. Der Keeper scheint Recht zu behalten. Nach dem 1:0-Auftaktsieg gegen Dänemark bietet sich den Finnen im zweiten Gruppenspiel gegen Russland die große Chance, nicht nur einen, sondern auch gleich den zweiten großen Gegner zu schlagen. Und damit sogar in die K.o.-Runde einzuziehen.

Das Ganze werden die "Uhus", wie man das Team nennt, höchstwahrscheinlich auch mit guter Unterstützung aus dem Publikum angehen können. Sankt Petersburg liegt nur rund 200 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt und ist für die Skandinavier vergleichsweise bequem zu erreichen. Der Uhu ist ein Thema, seit ein solches Flugtier 2007 in einem Testspiel gegen Belgien für eine zehnminütige Unterbrechung sorgte, als es sich kaum von der Torlatte des finnischen Gehäuses vertreiben ließ. Die Finnen gewannen anschließend mit 2:0 und schwören seither auf den geflügelten Glücksbringer.

Auftaktsieg nicht mit normalen Maßstäben messbar

Aber klar: Der Erfolg der Finnen gegen Dänemark hatte wenig mit dem Wirken eines Uhus zu tun und kam dennoch unter ganz besonderen Umständen zustande. Nach der Beinahe-Katastrophe um den kollabierten Dänen Christian Eriksen war das Auftaktduell der Gruppe B nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Die Dänen waren ganz sicher nicht ganz bei sich, die Finnen allerdings auch nicht. Das Ganze mündete in einen 1:0-Sieg des Außenseiters, den maßgeblich zwei Bundesliga-Profis zu verantworten hatten: Joel Pohjanpalo (letzte Saison im Dress von Union Berlin unterwegs) erzielte per Kopf den Siegtreffer und Keeper Hradecky (Bayer Leverkusen) sicherte seinem Team den Vorsprung, als er später einen schwach geschossenen Elfmeter von Pierre Emile Höjbjerg parierte.

Finnland, das zum ersten Mal überhaupt an einem großen Turnier teilnimmt, schaffte damit gleich mehrere historische Fakten: Im Debüt-Spiel einer EM gelang mit dem ersten Torschuss gleich auch der erste EM-Treffer. Der zum Premieren-Sieg reichte. Und sollte das Team von Trainer Markku Kanerva am Mittwoch (16.06.21) gegen Russland gewinnen, wäre mit dem Einzug in die K.o.-Runde gleich der nächste historische Schritt möglich.

"Wir werden weitermachen"

"Wir hatten Meilensteine ausgegeben. Wir wollten einmal zu null spielen und einen Punkt holen. Beides hat schon im ersten Spiel geklappt", sagte Trainer Markku Kanerva am Dienstag bei der Pressekonferenz, "aber wir werden weitermachen. Wir sind damit nicht zufrieden."

Finnland hat Blut geleckt. Die Nordeuropäer wollen wie Island bei der EM 2016 zum Überraschungsteam aufsteigen und eine Welle der Begeisterung auslösen. "Warum sollte uns so etwas dieses Jahr nicht auch gelingen?", sagte Joel Pohjanpalo, der erste EM-Torschütze seines Landes, bei t-online: "Auch wenn wir auf dem Papier wie eine Truppe schwacher Einzelspieler aussehen, spielen wir als Mannschaft guten, geschlossenen Fußball."

Extrem effektives Defensivkonzept

In der Tat war gegen Dänemark ab der ersten Minute das einfache Konzept der Finnen sichtbar: Das Team zog sich weit zurück und machte die Räume für den Gegner extrem eng. Selbst verzichtete man während der ersten 40 Minuten gänzlich auf Offensiv-Anstrengungen, was die Partie bis dahin wenig ansehnlich gemacht hatte. Und als es die Dänen im zweiten Abschnitt zunehmend an Konzentration vermissen ließen, schlug Finnland mit der ersten Offensivaktion gleich entscheidend zu. Effektivität nennt man so etwas.

Es ist eine verständliche Taktik. Schließlich verfügt der Kader nicht über individuelle Ausnahmekönner wie es Jari Litmanen in den Neunzigern und Nullerjahren gewesen war. Finnlands Fußball-Idol konnte sich seinen Traum von einem großen Turnier nie erfüllen, dennoch schaut er der heutigen Mannschaft bei der EM gerne zu. "Dieses Team bildet eine echte Einheit, Spieler und Stab", sagte der Rekord-Spieler (137) und -Torschütze (32) des Nationalteams, "das ist der Schlüssel zum Erfolg".