Frankreich - Deutschland im November 2015 Als der Terror das Stade de France erschütterte

Stand: 08.09.2021 07:00 Uhr

Am Abend des 13. November 2015 wird der Fußball überschattet. Beim Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland in Paris zieht der Schrecken ins Stade de France ein. Bastian Schweinsteiger, Tom Bartels und Mathias Werth erinnern sich.

Es ist der 13. November 2015, 21.17 Uhr, im Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Deutschland läuft die 16. Spielminute. Plötzlich ein gigantischer Knall, dröhnend und dumpf. "Ich kann mich an das Geräusch erinnern, als wäre es gestern gewesen", sagt Tom Bartels, der das Fußballländerspiel live in der ARD kommentierte. "Das Gefühl von Unsicherheit ist bis heute präsent", sagt Mathias Werth, der ehemalige Frankreich-Korrespondent der ARD. 

Viele Zuschauer im Stadion schauen in die Richtung, aus der die Explosion kommt. Auch einige Spieler wirken für einen kurzen Moment irritiert, darunter Deutschlands Kapitän Bastian Schweinsteiger. "Wir haben einen ganz lauten Knall gehört, wussten aber nicht, was los war. Ich persönlich dachte, das kommt aus dem Fankorridor. Aber um ehrlich zu sein, hat es sich schon anders angehört."

Für einen Moment ist es still. Was bleibt, ist die Ungewissheit. Das Publikum im vollbesetzten Nationalstadion, dem Stade de France, nimmt das Geräusch hin. Was sich gerade vor dem Stadion abgespielt hat, liegt außerhalb der Vorstellungskraft. Das Spiel läuft weiter. "Wohl doch nur ein lautes Feuerwerk", denkt Werth, der das Spiel zu Hause vor dem Fernseher verfolgt.

Terrorangriffe auf Bars, Kneipen und Restaurants

Wenige Minuten später ist ein zweiter Knall zu hören. Werth macht sich auf den Weg ins ARD-Studio. Bevor er dort ankommt, gehen Meldungen auf seinem Handy ein, dass verschiedene Orte in der Innenstadt angegriffen wurden. "Wir waren sensibilisiert, hatten kurz vorher erst die Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo. Und vier Wochen vor dem Länderspiel hatte der Generalstaatsanwalt für Terrordelikte darüber informiert, dass der IS größere Anschläge plant. 'Gebt acht', waren seine Worte."

Fast zeitgleich zur zweiten Detonation am Stadion fallen Schüsse in der Bar "Le Carillon" und im Restaurant "Petit Cambodge" in der Innenstadt, bei denen 15 Menschen getötet werden. Weitere Bars und Restaurants werden angegriffen, Schüsse fallen, Menschen sterben. Gegen 21.40 Uhr, während sich das Länderspiel in der Schlussphase der ersten Hälfte befindet, stürmen bewaffnete Angreifer die Konzerthalle "Bataclan", in der gerade die US-amerikanische Rockband "Eagles of Death Metal" spielt. Wahllos schießen die Terroristen mit Kalaschnikow-Sturmgewehren auf die rund 1.500 Menschen im Publikum.

Mathias Werth berichtet am Bataclan später für die Tagesschau. "Ich stand mitten unter den Verletzten. Neben mir ein schwer verletztes Mädchen, sie war grau wie Beton. Ich habe kurz diesen Gedanken gehabt: Mensch, die ist im Alter deiner Tochter. Ein Sanitäter hielt ihre Hand. Ich weiß nicht, ob sie die Nacht überlebt hat."

"Man will einfach nur schweigen und nicht über Fußball sprechen"

Im Stade de France hallt der Pfiff des spanischen Unparteiischen Antonio Mateu Lahoz durchs Stadion. Tausende Anhänger bejubeln ihre Mannschaft beim Gang in die Kabine. Kurz vor Ende der ersten Halbzeit ging Frankreich mit 1:0 in Führung. "Ich habe dann mehrfach in der Regie nachgefragt, ob da wirklich nichts passiert ist. Genau das war unser Stand", erinnert sich Tom Bartels. "Erst zu Beginn der zweiten Halbzeit, als der französische Präsident Hollande das Stadion verlassen hat, habe ich die Info bekommen, dass es wohl einen Anschlag gab. Wir haben dann gesagt, was wir wussten, das war nicht viel. Ich wusste nur, dass ich hier falsch bin."

Auf den Handys der Zuschauer gehen Meldungen französischer Medien über Anschläge in Paris ein, über erste Tote. Die Eingänge des Stadions werden verschlossen. "Das Skurrile war dann ja auch, dass noch ein Tor fiel. Die Spieler ahnten nicht, was passiert ist. Die Franzosen liefen in ihre Kurve und haben sich feiern lassen. Als Kommentator zu wissen, da sind Menschen gestorben und dann weiterzumachen, damit keine Panik ausbricht - das ist schon pervers", sagt Bartels.

Um 22.48 Uhr, nach Spielende, ist es still im Inneren des Stadions. "Direkt nach Schlusspfiff sind Leute zu uns aufs Feld gekommen und haben uns erklärt, was passiert ist", sagt Schweinsteiger. "Es war ein großer Schock. Man hat auch eine gewisse Angst verspürt. Einige Spieler hat das schon sehr mitgenommen. Das Gute war aber, dass wir als Mannschaft zusammen waren und viel miteinander sprechen konnten."

"Ganz Europa wurde von dem Attentat aufgerüttelt"

Die Sicherheitslage ist auch nach Spielende unklar - um das Stadion, in ganz Paris. Gerüchte von weiteren Attentätern vor dem Stadion machen die Runde. Von Sicherheitskräften zurückgedrängt, suchen viele Zuschauer deshalb Schutz auf dem Spielfeld.

In der Innenstadt richten die Terroristen ein Massaker an. 130 Menschen sterben an jenem Abend, 683 werden zum Teil schwer verletzt. "Das war ein Ereignis, das ganz Europa aufgerüttelt hat. Ein ganzer Kontinent hat sich angegriffen gefühlt. Es war dann auch das erste Mal überhaupt, dass die europäischen Staaten Solidarität mit Frankreich im Bereich der Verteidigungspolitik formuliert haben", sagt Prof. Dr. Thomas Jäger, Politikwissenschaftler und Terrorismusexperte der Universität zu Köln.

Eine Gedenktafel erinnert am Stadion heute an die Opfer der Attentate

Die Anschläge hinterlassen bei allen Beteiligten tiefe Spuren. "Ich bin dann ganz anders durchs Land. Man scannt die Gegend. Fühle ich mich wohl, bin ich in der Nähe eines Ausgangs? Früher fühlte ich mich auf dem Heimweg schon im Feierabend. Dieses Gefühl habe ich nie wieder gehabt. Ich war erst ruhig, wenn ich zu Hause die Tür hinter mir zugemacht habe", berichtet Mathias Werth.

Am Nationalstadion erinnert heute eine Gedenktafel an die Selbstmordattentate, bei denen ein Mann getötet und mehrere Personen verletzt wurden. Vor vier Jahren rief der Sohn des ermordeten Passanten hier dazu auf, der Furcht nicht nachzugeben. Angesichts der Angst, teilte er mit, "müssen wir alle weiter in aller Freiheit voranschreiten, ohne jemals denen nachzugeben, die uns terrorisieren wollen".