Ein Kind dehnt sich

Corona verschärft Bewegungsmangel Wissenschaftler fordert Marshallplan für Kindersport

Stand: 10.09.2021 18:00 Uhr

Deutsche Kinder bewegen sich zu wenig, die Corona-Pandemie hat das Problem noch verschärft. Ein Sozialwissenschaftler der Uni Duisburg-Essen fordert von der Politik einen Marshallplan.

Von Matthias Wolf

Die Corona-Pandemie hat den Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen vergrößert. Der Sozialwissenschaftler Ulf Gebken von der Universität Duisburg-Essen hat bei seinen Studien vor Ort festgestellt, dass die Kinder "ihren Rhythmus verloren" hätten, nächtelang hätten sie "nur noch durchgezockt" während des Lockdowns. Die Statistiker der Krankenkasse DAK haben ermittelt, dass Kinder im Lockdown 139 Minuten täglich mit Computerspielen verbracht haben. Dazu kommen noch 193 Minuten Social Media. Insgesamt fast eine Verdoppelung.

31 Milliarden Euro Sanierungsstau bei Sportstätten

Die Folgen sind gravierend: Es fehlt den Kindern an Ausdauer, Beweglichkeit – nahezu an allem. Schon kurze Spaziergänge seien für viele Kinder ein Problem, hat Gebken festgestellt. "Wir wissen, wie wichtig Bewegung für die Entwicklung dieser jungen Menschen ist. Sie erschließen sich die Welt über Greifen, Laufen, Bewegen. Das haben sie nicht gemacht. Und nun haben sie enorme Defizite", sagt Gebken. "Wenn es da keine Maßnahmen gibt, die ihnen helfen, das zu überwinden, dann verlieren wir eine ganze Generation."

Der Sozialwissenschaftler fordert deshalb einen Marshallplan für den Kinder- und Jugendsport. In erster Linie geht es ihm dabei um die Infrastruktur und Lehrer-Ausbildung. 31 Milliarden beträgt der bundesweite Sanierungsstau bei Sportanlagen – betroffen sind vielerorts Sport- und Schwimmhallen, die auch Schulen nutzen. Allein in Essen haben 29 von 82 Elementarschulen keine Turnhalle. "So ein Mangel ist ein großes Versagen unserer Gesellschaft – und das über Jahrzehnte", sagt Gebken.

Vier von fünf Heranwachsenden erreichen Minimalziel nicht

Das Problem ist also nicht neu, aber Corona hat in dieser Beziehung wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. "Wir haben so viel versäumt, schon vor der Pandemie, müssten eigentlich so viel nachholen, erst Recht nach der Pandemie – aber wie soll das unter solchen Bedingungen gehen?", fragt Gebken. "Wir haben im Lehrplan drei Stunden Sportunterricht stehen. Die werden gar nicht erteilt. Es werden ja nur zwei erteilt. Und jetzt haben wir auch noch einen Lehrermangel und wir haben Sportstätten-Probleme. Das heißt, es werden nur noch 1,5 oder eine Stunde pro Woche erteilt." So dürfe es nicht weitergehen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt Kindern und Jugendlichen mindestens eine Dreiviertelstunde Bewegung am Tag. Doch allein in Deutschland erreichen vier von fünf Heranwachsenden dieses Minimalziel nicht. So steht es im 4. Kinder- und Jugendsportbericht, der bereits Ende 2020 erschien und die Pandemie noch kaum berücksichtigt.

Im Sportausschuss des Bundestages hat auch der organisierte Sport vor den drastischen Folgen gewarnt. Andreas Silbersack, als Vizepräsident im DOSB für den Breitensport zuständig, klang im Frühjahr geradezu verzweifelt: "Mein Gott, wir müssen doch in der Lage sein, diese Gesellschaft so auszustatten, dass die Kinder und Jugendlichen Sport treiben können." Stattdessen habe Corona die Lage noch verschlimmert. Mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche hätten dem organisierten Sport den Rücken gekehrt. Viele von ihnen hätten psychische Probleme und seien fettleibig geworden.

Lebensgefährliches Defizit beim Schwimmen

Einen Marshallplan bräuchten auch die Schwimmhallen im Land. Ein Viertel aller deutschen Grundschüler hat keinen Zugang mehr zu einer Schwimmhalle – der Schwimmunterricht fällt aus. Sechs von zehn Grundschulkindern sind nach Ende der vierten Klasse keine sicheren Schwimmer – wie es der Lehrplan eigentlich verlangt.

In Deutschland sind in den vergangenen knapp 20 Jahren rund 1.500 von 7.700 Schwimmbädern geschlossen worden. Sie waren baufällig und unwirtschaftlich. Die Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft DLRG hat erst dieser Tage auf die aus ihrer Sicht kausalen Zusammenhänge zwischen Bäderschließungen und Schwimmfähigkeit verwiesen. 184 Badetote in diesem Jahr, darunter 24 Kinder – das sei kein Zufall.

Auf dem Weg zum Nichtschwimmerland

Für Achim Wiese von der DLRG ist klar, dass sich die Situation in der Corona-Pandemie drastisch verschlechtert hat. Eineinhalb Jahre sind Schwimmkurse bei Vereinen und Schulen ausgefallen. Ein gefährlicher Rückstau, der Leben kosten kann. "Die Zahl der Kinder, die nicht zu sicheren Schwimmern ausgebildet werden konnte, beläuft sich allein bei der DLRG zwischen 70.000 und 100.000", sagt Wiese. "Bundesweit betrachtet kommen wir mit Sicherheit auf eine Million Kinder, wenn man alle anderen wie Vereine und Schulen, die auch mit ausbilden sollen, mit einrechnet."

Vielerorts versuche man die Situation zu entschärfen – durch Crash-Kurse. Mehr Kinder sollen schneller ins Wasser. 450 von 2.000 DLRG-Ortsvereinen beteiligen sich bereits an der Aktion. Doch die Pandemie hat auch ehrenamtliche Kräfte gekostet – die DLRG konnte vielerorts nicht so schnell ausbilden wie sie wollte. "Deutschland ist auf dem besten Wege ein Nichtschwimmerland zu werden", sagt Wiese.