American Football | NFL Kopfverletzungen - der NFL droht ein "böses Erwachen"

Stand: 11.02.2022 07:00 Uhr

Am Wochenende schauen die Football-Fans wieder in die USA zum größten Einzelsportevent der Welt, dem Super Bowl. Doch während die Zuschauer die Spielzüge auf dem Platz feiern, riskieren die Spieler für das Spektakel ihr Leben. Der ehemalige Football-Spieler und Neuro-Wissenschatfter Christopher Nowinski kritisiert die US-Football-Liga NFL im Gespräch mit der Sportschau.

"Der Football hat ihn kaputt gemacht", sagte Alonzo Adams im vergangenen April gegenüber einem lokalen TV-Sender, nachdem sein Sohn, der ehemalige NFL-Profi Phillip Adams, sechs Menschen erschossen hatte und danach sich selbst.

Vor wenigen Wochen kam dann tatsächlich heraus: Adams litt an Chronisch Traumatischer Enzephalopathie, kurz CTE. Eine progressive degenerative Erkrankung des Gehirns, die nach wiederholtem Kopftrauma auftreten kann. 

Auswirkungen bis hin zu starken Aggressionen

CTE ist eines der größten Probleme der NFL. Die Symptome entwickeln sich kontinuierlich: von Kopfschmerzen und Konzentrationsproblemen hin zu Depressionen und starken Aggressionen. Seit 2010 starben mehr als zehn NFL-Spieler, die später mit CTE diagnostiziert wurden, durch Selbstmord.

2013 tötete Tight End Aaron Hernandez zwei Menschen, ehe er sich später selbst umbrachte. Dr. Ann McKee, Direktorin des CTE-Centers der Boston University, kam nach der Untersuchung des Gehirns von Hernandez zu folgendem Ergebnis: "Individuen mit ähnlichen Autopsiebefunden waren zum Todeszeitpunkt mindestens 46 Jahre alt." Hernandez war zum Zeitpunkt seines Todes 27.

CTE bei fast jedem untersuchten NFL Spieler

Die Datenlage zeigt das dramatische Ausmaß. Bereits 2017 untersuchten Wissenschaftler in Boston 111 Gehirne ehemaliger NFL-Spieler. In 110 Fällen fanden die Forscher CTE. Mittlerweile wurde die Krankheit bei 315 Spielern festgestellt.

Die Autorin Dr. Ann McKee spricht von "überwältigenden Indizien." Gegenüber der "New York Times" bescheinigte sie dem Football und der NFL, "ein Problem" zu haben. Bisher können nur Gehirne verstorbener Spieler untersucht werden. Doch immer mehr aktive Spieler klagen über CTE-typische Symptome.

NFL: Jahrelang Zusammenhänge bestritten

Die NFL hat den Zusammenhang zwischen CTE und American Football jahrelang dementiert, sogar falsche Studien veröffentlicht. Erst 2016 gab ein NFL-Offizieller erstmals die Verbindung zu. Seitdem gibt sich die NFL als großer Kopfverletzungs-Gegner, die Sicherheit der Spieler stehe an erster Stelle.

Tatsächlich hat die Liga in den vergangenen Jahren Maßnahmen eingeführt, um Kopfverletzungen zu vermeiden: Beim sogenannten Concussion Protocol werden Spieler mit Verdacht auf Gehirnerschütterungen während des Spiels untersucht. Dazu gibt es medizinisches Personal im Stadion, die Kopfverletzungen frühzeitig erkennen sollen. Ärzte und Neuro-Spezialisten stehen an der Seitenlinie bereit. Auch das Regelwerk wurde angepasst, harte Tacklings gegen den Kopf werden bestraft.

Maßnahmen zielen auf Gehirnerschütterungen, aber nicht auf CTE

Christopher Nowinski zweifelt hingegen an den neuen Maßnahmen. Der ehemalige Football-Spieler der Harvard University ist Gründer der Concussion Legacy Foundation und einer der Gründer des Boston University CTE Center. "Die meisten Regeländerungen der NFL zielen auf Gehirnerschütterungen und nicht auf CTE. Deshalb werden sie nicht helfen," erklärt Nowinski gegenüber der Sportschau.

Er sieht weiterhin großen Handlungsbedarf: "Das Risiko für CTE hängt mit der Anzahl an Schlägen gegen den Kopf im Laufe der Jahre zusammen. Das fängt bereits bei American Football bei Kindern an. Wir fordern Football ohne Tacklings bis 14 Jahre sowie begrenzte Saisons mit weniger Tacklings im Training."

Für die NFL geht es im Zusammenhang mit Kopfverletzungen um Milliarden US-Dollar. Bisher musste die Liga über 800 Millionen Dollar an NFL Profis mit verschiedenen Typen von Gehirnerkrankungen zahlen. Doch die Kosten dürften weiter steigen.

Rassistische Aufarbeitung in der NFL

Ein Grund für mögliche weitere Klagen: Ein in den 1990er Jahren eingeführtes System zur Diagnose von Demenz war in zwei Kategorien aufgeteilt. Einen Test für schwarze Spieler und einen Test für alle anderen Spieler. Die Begründung damals: Schwarze Menschen hätten schlechtere kognitive Fähigkeiten, Demenz wäre also schwieriger festzustellen.

Erst 2019 wurde dieses rassistische System öffentlich. Im vergangenen Oktober versprach die NFL dann, es zu beenden. Immerhin: Ehemalige schwarze Spieler haben jetzt die Möglichkeit, ihre Ergebnisse überprüfen oder neue Tests machen zu lassen. 70 Prozent aller NFL-Spieler sind schwarz.

"Böses Erwachen" für den Sport

Christopher Nowinski stellt die Bemühungen der Liga trotzdem in Frage. "Die NFL tut nicht genug im Kampf gegen CTE. Sie geben kaum finanzielle Unterstützung für die Diagnosen von CTE bei lebenden Spielern. Das wäre das Wichtigste. Stattdessen haben sie dieses Jahr mehr Geld für Studien zu Oberschenkelverletzugnen ausgegeben."

Nowinski fordert, dass CTE auch bei lebenden Football-Profis untersucht werden müsse. Wenn das geschehen sollte, werde es für den Sport und die Liga zu einem "bösen Erwachen" kommen.