Historie "Sportverräter" im Visier der Stasi

Stand: 04.12.2021 13:06 Uhr

Claus Tuchscherer vom Sportclub Dynamo Klingenthal in Sachsen war einer der besten Nordischen Kombinierer der DDR. Bei den Olympischen Winterspielen 1976 setzte er sich nach Österreich ab und galt fortan als "Sportverräter". Zwei Jahre später bei der Ski-WM in Lahti (Finnland) löste sich während des Sprungs seine Skibindung. Tuchscherer fragt sich bis heute: Hatte die Stasi damals ihre Hände im Spiel?

Von Thomas Purschke

Es gibt zahlreiche unvergessliche Momente im Sport, in denen die Zuschauer den Atem anhielten. So auch diesen: Ein Skispringer spreizt seine Arme wie ein Adler, kämpft mit aller Macht um die Balance in der Luft. Er trägt nur einen Ski, der andere schwebt zwischen seinen Beinen, es sieht aus wie ein Stunt aus einem James-Bond-Film.

Beim Absprung löst sich die Bindung

Doch es war sehr ernst, was Claus Tuchscherer (Jahrgang 1955) auf der Normalschanze bei der Nordischen Ski-WM im Februar 1978 in Lahti passierte. Beim Absprung hatte sich die Bindung des rechten Skis gelöst. Knapp 60 Meter weit kam der Medaillenanwärter, indem er in der Luft sein Körpergewicht auf den noch vorhandenen linken Sprungski verlagerte. Eine wahrlich große akrobatische Leistung. Nach der Landung folgte zwangsläufig ein Sturz, ein Platz auf dem Treppchen war dahin. Tuchscherer kam mit einer Wirbelsäulenverkrümmung und blauen Flecken davon.

Es gab auch einen ernsten politischen Hintergrund: Tuchscherer stammte aus Schönheide im Erzgebirge, wo er beim DDR-Sportclub Dynamo Klingenthal trainierte, er war einer der besten Kombinierer der Welt. Bei den Olympischen Spielen in Innsbruck 1976, wo er Fünfter wurde, setzte sich der damals 21-Jährige nach Österreich ab. Fortan galt er im Osten als "Sportverräter".

Dass er in Lahti einen Ski verlor, hält Tuchscherer nicht für Zufall oder einen Unfall. Bis heute glaubt er an die Möglichkeit, dass damals die Stasi die Bindung an seinem Ski manipuliert hat. Es war die Zeit des Kalten Krieges: Die Flucht eines Spitzensportlers war für die DDR-Oberen immer auch eine große Niederlage.

Von der Stasi massiv überwacht

Der Fall Tuchscherer lief so: Monate vor den Spielen von Innsbruck verliebte er sich in einem Trainingslager auf dem Dachsteingletscher in die Österreicherin Anna. Mit dem Taxi, das sie organisierte, ging es im Februar 1976 heimlich vom DDR-Olympia-Quartier in Mösern nach Bischofshofen und von dort im Zug in die Steiermark, Annas Heimat.

Danach wurde Tuchscherer massiv von der Stasi überwacht, auch von früheren Sportkameraden. Dass zu den Stasi-Informanten auch der 1978er-Skisprung-Weltmeister Matthias Buse (Deckname IM "Georg") von Dynamo Klingenthal gehörte, erfuhr Tuchscherer nach Öffnung der Aktenarchive des DDR-Geheimdienstes. Trotz der belegten Aktenlage streitet Buse eine IM-Tätigkeit bis heute vehement ab.

Bei der Vierschanzentournee 1976/77 erstmals für Österreich am Start

"Es ist der absolute Wahnsinn, wie das damals abgelaufen ist", sagt Tuchscherer im Rückblick auf seine erste Vierschanzentournee in seinem neuen österreichischen Team zum Jahreswechsel 1976/77. Die DDR-Funktionäre versuchten mit aller Macht beim Weltskiverband (FIS), seinen Start zu verhindern.

Das misslang, Tuchscherer hatte es geschafft, sich innerhalb von zehn Monaten vom DDR-Kombinierer zum Spezialspringer für das Tournee-Team Österreichs zu qualifizieren: "Ich wollte in Freiheit meinen Sport machen und zeigen, dass man auch ohne den politisch brutal instrumentalisierten DDR-Leistungssport samt Doping gut springen kann."

Dopingpillen vom DDR-Mannschaftsarzt Wuschech

Zudem hatte er noch die Worte des 2020 verstorbenen DDR-Mannschaftsarztes Heinz Wuschech im Ohr. Der habe einst, so Tuchscherer, die Dopingpillen Oral-Turinabol an ihn und seine Teamkameraden verteilt und gesagt, dass man einen Spitzensportler nur für maximal vier Jahre voll belasten könne. Dann sei der Organismus verbraucht. "Da wurde mir klar, dass ich für die Bonzen nur ein Stück Material war", sagt Tuchscherer.

In Österreich trainierte er gemeinsam mit Karl Schnabl und Toni Innauer. In der Anfangszeit habe ihm vor allem Österreichs Erfolgstrainer Baldur Preiml geholfen, erzählt Tuchscherer: "Er ist mit uns Athleten sehr respektvoll und fair umgegangen, hat uns Eigenverantwortung übertragen und große Freiheiten gelassen, was für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig war. Das kannte ich aus der DDR nicht." Und auch Preiml erinnert sich: "Der Claus war ein fleißiger Bursche und eine große Bereicherung für unser Team."

Trotz der nervigen Störattacken der DDR-Funktionäre konnte Tuchscherer bei seiner ersten Tournee 1976/77 den 18. Platz in der Gesamtwertung erringen. Im Abschlussspringen in Bischofshofen schaffte er es mit dem 5. Platz zum ersten Mal in die Top Ten. Seine früheren DDR-Kameraden ignorierten Tuchscherer und verweigerten ihm bei der Siegerehrung den Handschlag.

Hat die Stasi die Ski-Bindung manipuliert?

Auch bei der Ski-WM 1978 in Finnland war Tuchscherer für seine ehemaligen DDR-Kollegen ein ernster Konkurrent. Beim ersten Wettkampfsprung passierte dann die Sache mit dem Skiverlust. Bis heute sei es ihm völlig rätselhaft, wie das passieren konnte, sagt Tuchscherer.

Oben auf dem Anlaufturm hatte er die Bindung noch kontrolliert. Hatte jemand nachgeholfen und die Bindung manipuliert? "Nach allem, was man heute weiß, traue ich es der Stasi auf alle Fälle zu", glaubt er.

Entschuldigt hat sich bei ihm niemand

Für den zweiten Sprung in Lahti reparierte Tuchscherer die Skibindung notdürftig und trat trotz Schmerzen zum zweiten Versuch an. Die Zuschauer feierten ihn. Ein Trost war das nicht: "Die Chance auf den größten Erfolg meiner Karriere war dahin. Für die DDR wäre das doch ein nationaler Trauertag gewesen, wenn ich für Österreich eine Medaille gewonnen hätte."

Das Stunt-Foto ging um die Welt. Seine Skier ließ Tuchscherer bei späteren Wettkämpfen nie mehr aus den Augen. 1982 beendete er seine Karriere. Mit Anna gründete er eine Familie mit zwei Kindern. Bis zur Pensionierung 2019 arbeitete er als Angestellter bei der Stadt Innsbruck.

Auch heute lässt Tuchscherer die Rechtfertigung, man habe damals bei der Stasi mitmachen müssen, nicht gelten: "Man hätte Nein sagen können." Bis heute habe sich keiner der Stasi-Zuträger bei ihm entschuldigt, sagt er.

Skispringen verfolgt Claus Tuchscherer, der heute in der Nähe von Innsbruck lebt, nur noch im TV. Ein Naturmensch ist er geblieben, geht oft in die Berge, auf Skitour und fährt Rad. Kontakte auch zu einstigen Sportkameraden in Ostdeutschland pflegt er bis heute. Auch beim großen Springertreffen in Wildenthal/Erzgebirge im Herbst 2019 war er dabei. Seine alte Heimat in Schönheide besucht Tuchscherer ohnehin oft.

Seine Flucht habe er nie bereut: "Die Freiheit im Westen, die ich seit 1976 erlebte, konnten Medaillen und eine Sportkarriere in der DDR nicht aufwiegen." Dafür ist er bis heute dankbar.