Turnen Turnerin Biles: Mensch statt Maschine - eine berührende olympische Erkenntnis

Stand: 24.12.2021 08:00 Uhr

Turn-Superstar Simone Biles sollte das Gesicht der Olympischen Spiele in Tokio werden. Doch statt Goldmedaillen in Serie zu gewinnen, muss sie die meisten Olympiastarts absagen. Die US-Amerikanerin macht den Grund dafür, ihre psychischen Probleme, öffentlich und erhält dafür weltweit Anerkennung. Ihre Erkenntnis von Tokio: "Die Menschen lieben mich, auch wenn ich nicht gewinne."

Schon der Rahmen stimmt nicht an diesem feucht-heißen Sommertag in Tokio. Die Turnhalle ist wunderschön, aber die hellen Holzbänke sind fast alle leer. Corona hat nicht nur die Vorbereitung der Turnerinnen erschwert und an ihrer Motivation genagt, es wischt jetzt auch die Emotionen von den Rängen. In diesem Ambiente hat Simone Biles ihren ersten Auftritt bei diesen Olympischen Spielen.

GOAT - The Greatest of all Time

"Goat, The Greatest of all Time", wird sie genannt. Sogar ein Twitter-Emoji ist der besten Turnerin der Geschichte gewidmet. Einer Athletin, die mit unglaublicher Sicherheit Höchstschwierigkeiten in Perfektion zeigt.

27 WM-Medaillen und vier olympische Goldmedaillen hat Simone Biles gewonnen. Vier Elemente sind nach ihr benannt, weil sie diese zuerst geturnt hat. Am Boden zeigt sie in Tokio gleich zwei Schrauben-Salti, die keine andere Turnerin beherrscht. Beeindruckend.

Aber: Etwas ist anders. Es fehlt die Magie, es fehlt die Perfektion. Simone Biles sieht nicht enttäuscht aus nach ihrem ungewohnten Stolperer von der Bodenfläche. Eher verblüfft. Es folgen noch einige kleinere Patzer. Ein schwächerer Tag des Superstars. Aber sie hat trotzdem Platz eins nach der Mehrkampf-Qualifikation und die Teilnahme an allen Gerätefinals in der Tasche.

Blockade - Nichts geht mehr

Niemand auf der aufgeregten Medientribüne ahnt, was wenige Tage später passieren wird: Im Mannschaftswettbewerb steigt Simone Biles nach einem Patzer beim ersten Sprung aus. Nichts geht mehr. "Ich habe mein ganzes Leben trainiert, ich war körperlich bereit, ich fühlte mich wohl – und dann geriet alles außer Kontrolle", erzählt sie später.

Eine Blockade. Simon Biles kann sich nicht mehr um die Längsachse drehen, ohne die Orientierung zu verlieren. Das, was sie normalerweise in Perfektion beherrscht, geht plötzlich nicht mehr.

Zum ersten Mal – und das ausgerechnet bei Olympia – ist sie an ihre Grenzen gestoßen. "Ich hatte keinen Spaß mehr", erklärt die 24-Jährige: "Ich wollte diese Olympischen Spiele für mich genießen, aber hatte das Gefühl, für alle anderen funktionieren zu müssen. Das hat mir in der Seele wehgetan."

Mensch statt Maschine

Simone Biles ist eine Kämpferin – immer schon. Als Tochter einer drogensüchtigen Mutter wächst sie bei einer Pflegefamilie auf. Sie arbeitet jahrelang hart für ihren Traum vom Elite-Turnen, ist Opfer von Turn-Teamarzt Larry Nassar im US-amerikanischen Missbrauchsskandal. In den vergangenen Jahren hat sie mit Motivationsproblemen zu kämpfen. Und dann stirbt kurz vor Olympia ihre Tante. Zu viel. Auch für eine Kämpferin.

Als nichts mehr geht in Tokio, versteckt sich Simone Biles nicht. Sie begleitet ihre Teamkolleginnen durch das Mannschaftsfinale, feuert an, tröstet bei Patzern und ist die erste, die den Russinnen, die die favorisierten US-Amerikanerinnen ohne Biles schlagen können, gratuliert.

Simone Biles macht ihre psychischen Probleme öffentlich. Verletzliche Frau statt Turn-Maschine. Sie verzichtet auf den Einzel-Mehrkampf und auf drei von vier Gerätefinals.

Bronze am Balken

Am letzten Tag der Turnwettbewerbe von Tokio ist sie dann wieder da. Zum Gerätefinale am Balken. Lange vor ihrer Übung liegt sie mit ihren Teamkolleginnen auf der Bodenmatte, macht Späße, tippt auf dem Smartphone herum. Dann die Routine vor ihrer Wettkampfübung. Alles wie immer. Die Spannung in der Halle aber ist auch ohne großes Publikum zu greifen.

Und Simone Biles liefert, ausgerechnet auf dem Wackelgerät Balken. Eine gute Übung ohne große Fehler mit einem Abgang ohne Schrauben. Simone Biles lächelt, sie greift sich kurz ans Herz, wirkt erleichtert. Es reicht für die Bronzemedaille.

Der Jubel rund um Biles ist riesig. Die Teamkolleginnen gratulieren, auch die Konkurrentinnen sind sofort da. So mancher auf den Rängen hat Tränen in den Augen.

Biles: "Wir sind nicht nur Entertainer"

Wahrscheinlich wäre die Ankündigung der Bronzemedaille vor den Spielen eine Enttäuschung gewesen für Simone Biles. Jetzt ist es eine ihrer größten Errungenschaften, sich diese Medaille erkämpft zu haben.

Selbstbestimmt in einer Sportart, in der noch zu viele Athletinnen fremdbestimmt handeln. Simone Biles hat in Tokio eine Botschaft: "Wir sind nicht nur Entertainer, wir sind Menschen. Aber als Athleten verlieren wir manchmal den Kontakt zu unseren Gefühlen."