Aus im Halbfinale der French Open Alexander Zverev nach French Open: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Stand: 12.06.2021 09:56 Uhr

Alexander Zverev hat das Selbstverständnis, große Turniere gewinnen zu wollen. Im Halbfinale der French Open ist er jedoch mehr an sich selbst gescheitert als an Gegner Stefanos Tsitsipas.

Von Jannik Schneider

Es gibt viele Elemente, die im Profitennis über Sieg und Niederlage entscheiden können: Taktik, mentale Stärke, Ausdauer, Kraft, Schlaggenauigkeit oder Variabilität. Und es gibt das viel beschworene Momentum.

Genau das hatte Zverev – seit rund fünf Jahren Deutschlands bester Tennisspieler – am Freitag (11.06.2021) im Halbfinale der French Open gegen den Weltranglisten-Fünften Tsitsipas zu Beginn des fünften und entscheidenden Satzes auf seiner Seite. Der 24-Jährige hatte sich das Momentum nach enttäuschenden zwei Durchgängen erarbeitet, war mit harter Arbeit ins Match zurückgekehrt, hatte zum 2:2 ausgeglichen.

Momentum ist ein zartes Gut

Zverev war obenauf und selbstbewusst. Die Körpersprache stimmte. Die Schläge kamen hart. Er ging "durch den Ball durch", wie Tennisspieler zu sagen pflegen, und hatte folgerichtig umgehend drei Breakbälle im ersten Spiel des Entscheidungssatzes.

Doch das Momentum ist ein zartes Gut im Profitennis. Es verschwindet schneller, als es aufgetaucht ist. Und manchmal entscheidet es sich für den tüchtigeren zweier Spieler. Tsitsipas wehrte alle drei Breakmöglichkeiten ab, servierte gut, feuerte sich lautstark an und ging in Führung. Wenig später nahm er Zverev den Aufschlag ab und erspielte sich mit der Führung im Rücken nach 3:37-Stunden sein erstes Grand-Slam-Finale. Während der emotionale Grieche noch beim Sieger-Interview auf dem Centre Court mit den Tränen kämpfte, versuchte Alexander Zverev im Pressezentrum wenige Minuten später gar nicht erst, seinen Frust zu verbergen.

Das Match sei erst 20 Minuten zu Ende und um ehrlich zu sein, habe er sich noch nicht damit beschäftigt – wie auch, so kurz nach dieser enttäuschenden 3:6, 3:6, 6:4, 6:4- und 3:6-Niederlage. "Ich habe scheiße gespielt die ersten beiden Sätze und muss einfach einen besseren Job machen", sagte Zverev. Er habe es zwar fast noch geschafft. "Ich kann nicht erwarten, dass ich gegen einen Top-Ten-Spieler so schlecht starte und dann noch gewinne", resümierte die Nummer sechs der Weltrangliste.

Zverev: "Habe im zweiten Satz komplett den Faden verloren"

Tatsächlich lieferte der 15-malige ATP-Turniersieger in seinem dritten Grand-Slam-Halbfinale zu Beginn eine unterdurchschnittliche Leistung ab. Mit zwei frühen Doppelfehlern lief Zverev den kompletten ersten Satz einem Break hinterher. "Ich war etwas nervös und im zweiten Satz habe ich dann komplett den Faden verloren", sagte Zverev, der nach einer 3:0-Führung sechs Spiele in Serie abgab und dabei zum Teil desolat auftrat. Bemerkenswert dabei: Auch Tsitsipas spielte längst nicht am Leistungslimit, was die Niederlage für Zverev umso schmerzhafter macht.

Zverevs Aufschlag, seine Rückhand, seine in Relation zu seiner Körpergröße unglaubliche Beweglichkeit und seine Physis sind meist besser als die seiner Kontrahenten außerhalb der Top Ten der Weltrangliste. Dafür hat er mit seinem vertrauten Team um Vater Alexander Zverev senior, Fitnesstrainer Jez Green, der einst Andy Murray zum schnellsten Spieler der Tour machte, und Physiotherapeut Hugo Gravil jahrelang hart gearbeitet.

An einem guten Tag kann er mit diesen Grundlagen im Rücken jeden Spieler besiegen und hat das außerhalb der vier größten Turniere der Welt schon bewiesen. Zuletzt gelang ihm das unter anderem mit Siegen gegen Rafael Nadal und Dominic Thiem, als er in Madrid seinen bereits vierten Masterstitel gewann. Keiner der aktiven Spieler außerhalb der sogenannten "großen vier" (Federer, Djokovic, Nadal, Murray) hat mehr Mastersturniere gewonnen. Seine Bilanz gegen Top-Ten-Spieler ist auf ATP-Niveau bei drei Gewinnsätzen mit 31:31 ausgeglichen.

Zverev hat bei Grand Slams noch nie gegen einen Top-Ten-Spieler gewonnen

Bei Grand-Slam-Turnieren rutscht die Statistik mit der Niederlage gegen Tsitsipas für einen Spieler seiner Klasse ins Bodenlose ab: 0:10 lautet die Bilanz. Boris Becker forderte bei "Eurosport" eine ehrliche Analyse seines Teams. Doch viel Zeit bleibt dem Zverev-Clan nicht. Der Turnierkalender ist wegen der Corona-Pandemie eng bestückt. Wimbledon beginnt in knapp zwei Wochen, Zverev startet kommende Woche im westfälischen Halle in die Rasensaison.

"Ich bin nicht mehr in einem Status in meiner Karriere, in dem es mir genügt, Teil von guten Matches zu sein. Ich kann mich auch nicht mehr dafür begeistern, in einem Halbfinale gestanden zu haben. Ehrlicherweise hätte das auch für das Finale gegolten", erklärte Zverev frustriert. Er habe das Turnier nicht gewonnen, freue sich aber auf Wimbledon.

Die Erwartungen sind hoch

Zverev erwartet von sich, dass er nicht nur um Grand-Slam-Titel mitspielt, er will sie gewinnen – und zwar jetzt im Jahr 2021. Dafür hat er – wiederholt – nicht konstant genug gespielt. Die Schwankungen, denen er im Best-of-five-Modus gegen die besten Spieler unterliegt, sind zum Teil eklatant und waren nicht erst im US-Open-Finale-2020 gegen Dominic Thiem zu erkennen, als Zverev konträr zum Match gegen Tsitsipas einen 2:0-Vorsprung verspielte.

Am Freitag war die Körpersprache teilweise desolat. Im zweiten Satz blickte Zverev mehrmals ratlos in seine Box und wirkte wie ein Jugendspieler ohne Matchplan. Vergleicht man das Auftreten mit dem anderen Halbfinale der French Open, kommt man zu keinem erfreulichen Ergebnis. Novak Djokovic und Rafael Nadal, zusammen fast 70 Jahre alt, lieferten am späten Freitagabend ein vierstündiges Feuerwerk ab – mit dem besseren Ende für Djokovic.

Zverev hinkt Top-Spielern hinterher

Es war erst Nadals dritte Niederlage im 105. Match in Paris – die zweite gegen Djokovic. Nadal bleibt bei 13 French-Open-Siegen und 20 Grand-Slam-Titeln insgesamt und kann damit noch nicht an Roger Federer vorbeiziehen. Djokovic will am Sonntag gegen Tsitsipas in dessen erstem Majorfinale Titel Nummer 19 gewinnen und ist nach der Leistung von Freitag turmhoher Favorit. Alleine der dritte Durchgang dauerte länger als ein Fußballmatch und war fast durchgehend auf dem allerhöchsten Niveau.

Zverevs Leistungen reichen gegen diese Top-Spieler noch nicht aus. Die Tiefs innerhalb der großen Matches müssen kleiner werden. Die Hochs müssen länger andauern. Erst dann können Selbstverständnis, Anspruch und Realität in Einklang gebracht werden.