Bettina Rulofs
interview

Missbrauch im Schwimmen "Das Leid der Betroffenen anerkennen"

Stand: 16.03.2023 10:21 Uhr

Eine unabhängige Aufarbeitungskommission untersucht Vorwürfe von zum Teil schweren sexuellen Übergriffen im Deutschen Schwimmverband. Zu dem vierköpfigen Gremium gehört die Sportsoziologin Bettina Rulofs.

Sportschau: Frau Rulofs, Sie sind eine der führenden Expertinnen in Deutschland, wenn es um das Thema sexualisierte und interpersonale Gewalt im Sport geht, haben die maßgeblichen Studien zum Thema vorgelegt. War das geplant, dass Sie sich jetzt auch noch in die Aufarbeitungskommission des Deutschen Schwimmverbandes einbringen?

Bettina Rulofs: Geplant war das nicht. Aber es erschien mir durchaus als eine logische Konsequenz auch unserer eigenen Forderungen. Denn ein Ergebnis unserer Studien war ja, dass eine organisationsbezogene Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Sport wichtig ist. Und wenn nun Sportverbände vor so einer Situation stehen, dann möchte ich auch gerne unseren eigenen Forderungen nachkommen und hier, so gut wir das können, unterstützen.

Sportschau: Das heißt, als sie gefragt wurden, führte kein Weg daran vorbei?

Rulofs: Doch, wir haben das schon sehr ordentlich abgewogen. Also erst mal war es mir wichtig, dass ich das nicht alleine machen kann. Sehr zentral ist in einem solchen Aufarbeitungsprozess eine juristische Perspektive, weshalb ich den Kollegen Martin Nolte als Jurist angesprochen habe und dann auch sehr froh war, dass er sich bereit erklärt hat, mitzumachen.

Und dann haben wir zunächst mit dem Vorstand des DSV, aber auch mit der Ansprechperson für das Thema Prävention sexualisierter Gewalt im DSV sehr ausführlich gesprochen. Was bedeutet das für den Verband? Welche Haltung hat der Verband dazu? Da wollten wir uns schon sehr sicher sein, dass der DSV sich hinter das Projekt stellt. Und diesen Eindruck haben wir dann gewonnen.


Sportschau:
Welche Fragestellungen legen Sie jetzt bei Ihrer Arbeit zugrunde und welche Zielsetzung haben Sie?

Rulofs: Uns interessiert zunächst: Welche Gewalt hat überhaupt stattgefunden? Was waren das für Gewalthandlungen? Wer und wie viele sind davon betroffen? Wer waren die Tatpersonen und vor allem was waren die Bedingungen, unter denen die Gewalthandlungen stattfinden konnten? Was hat die Ausübung der Gewalt begünstigt, aber auch beim Verdecken geholfen? Das sind die Fragen, die wir uns stellen. Und das Ziel ist zuvorderst, den betroffenen Menschen eine Möglichkeit zu geben, angehört zu werden.

Es geht auch darum, dass die Gewalterfahrungen, die sie gemacht haben, und das Leid, das dadurch entstanden ist, anerkannt werden, indem sich die Kommission jetzt in Ruhe damit befasst. Und es geht auch darum, aus den Berichten von Betroffenen, aber auch von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu lernen. Wir wollen aufzeigen, wo eine Struktur oder eine Organisation versagt hat. Was waren Fehler? Was können wir für die Zukunft daraus lernen im Hinblick auf Präventionsmaßnahmen, aber auch im Hinblick auf Intervention, also auf den Umgang mit Offenlegungen? Das wäre uns sehr wichtig.

Sportschau: Völlig ohne Einflussnahme des Verbandes?

Rulofs: Der DSV ist in keinerlei Weise weisungsbefugt gegenüber dem Aufarbeitungsgremium. Das Gremium wird dem DSV nach einem halben Jahr einen ersten Zwischenbericht vorlegen, dann nach einem Jahr einen Bilanzbericht. Und in diesem Bericht versuchen wir dann, die bis dahin vorhandenen Erkenntnisse zusammenzufassen, Vorschläge zu machen, wie nun weiter vorzugehen ist. Es kann auch gut möglich sein, dass die Aufarbeitung nach einem Jahr noch nicht fertig ist, sondern es noch weiterer Schritte bedarf. Auch das wurde bereits mit dem DSV besprochen.

Sportschau: Wird dieser Bericht veröffentlicht?

Rulofs: Es wird eine sorgfältige Abwägung geben, was veröffentlicht werden kann und was nicht. Wir müssen da auch auf Persönlichkeitsrechte achten. Aber es ist geplant, dass wesentliche Erkenntnisse aus dem Aufarbeitungsprozess veröffentlicht werden.

Sportschau: Dieses Team, das jetzt die Aufarbeitungskommission bildet, kommt komplett von der Sporthochschule Köln. Macht das die Sache leichter, dass Sie einander schon kennen und auch am gleichen Ort arbeiten?

Rulofs: Das ist für uns auf der operativen Arbeitsebene wichtig. Dass wir ein kollegial gutes Verhältnis haben und uns auch aufeinander verlassen können und wissen, wie wir miteinander kooperieren und arbeiten. Neben Martin Nolte und mir werden zwei weitere erfahrene Mitarbeiterinnen, Fabienne Bartsch und Caroline Bechtel, im Aufarbeitungsteam dabei sein. Sehr wichtig ist mir zu betonen, dass es neben dem Aufarbeitungsteam ja einen Beirat gibt. Dieser Beirat ist ebenso sehr zentral für die gesamte Arbeit, die wir da vor uns haben.

In dem Beirat ist beispielsweise eine ehemalige Athletin vertreten, die die Perspektive von Sportlern und Sportlerinnen einbringen kann und auch eine Expertise hat in diesem Themengebiet, weil sie sich für die Rechte von Betroffenen, von Gewaltopfern einsetzt. Es ist eine Sportpsychologin dabei und eine Vertreterin vom Berufsverband der Trainer im deutschen Sport. Diese verschiedenen Blickwinkel auf das Aufarbeitungsthema regelmäßig einzufangen und auch konkret Unterstützung von diesem Beirat zu bekommen, ist sehr wichtig.

Sportschau: Die Fragestellungen und die Methodik des Vorgehens sind schon erarbeitet. Sie können jetzt eigentlich sofort loslegen. Was sind die ersten Schritte?

Rulofs: Einer der ersten Schritte wird sein, die Dokumente zu sichten, die beim DSV zu diesen Vorfällen vorliegen. Dadurch werden wir Hinweise bekommen, in welche Richtung wir weitersuchen und fragen müssen und auch, welche Personen wichtig sind für die Interviews, für die Anhörungen. Und dann werden wir in eine Phase der Anhörung von Betroffenen gehen, aber auch im Umfeld Akteure befragen, die vielleicht zur damaligen Zeit wichtige Positionen innehatten oder etwas beobachtet haben.

Sportschau: Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich denn von den Betroffenen, mit denen Sie sprechen werden?

Rulofs: Aus Perspektive der Betroffenen ist uns erst mal sehr wichtig zu erfahren, welche Gewalthandlungen sie erlebt haben. Was diese Gewalthandlungen auch für ihr Leben bedeutet haben, wie sich das auf gesundheitliche und psychische Aspekte, aber auch auf die sportliche Entwicklung ausgewirkt hat. Dann ist uns wichtig zu erfahren, ob die Betroffenen Informationen weitergegeben haben, also ob sie das offengelegt haben und ob sie Hilfe und wenn ja, welche Hilfe sie bekommen haben.

Wenn sie keine Hilfe oder nicht genügend Unterstützung bekommen haben, ist das für uns natürlich der Punkt, an dem wir genauer hinschauen wollen. Warum hat das nicht stattgefunden? Was waren die Ursachen und Bedingungen dafür, dass nicht geholfen wurde? Das aufzudecken ist uns sehr wichtig in einem solchen Aufarbeitungsprozess. Wir wissen aus den Biografien von Betroffenen, dass es schwer ist, gerade nach sexuellen Gewalterfahrungen Unterstützung zu bekommen. Das möchten wir dann wieder zurückspielen in den Sport. Was muss der Sport tun, damit solche Offenlegungen auch stattfinden können?

Sportschau: Wann sind Sie mit der Arbeit dieser Aufarbeitungskommission, mit Ihrer eigenen Arbeit zufrieden?

Rulofs: Ich bin vor allem dann zufrieden, wenn Betroffene nach diesem Aufarbeitungsprojekt sagen: 'Wir haben eine Gelegenheit gehabt, sorgfältig angehört zu werden. Wir konnten auch ein Stück unserer Last loswerden.' Das wäre ein sehr schönes Ergebnis. Und wenn es uns dann gelingt, Empfehlungen auszusprechen, die der Deutsche Schwimmverband umsetzen kann, dann wären wir, glaube ich, bei einem ganz guten Ergebnis.