Schach-WM: Ding Liren gegen Jan Nepomniachtchi
analyse

Ding Liren ist neuer Weltmeister So spannend war eine Schach-WM lange nicht

Stand: 30.04.2023 16:12 Uhr

Als erster Chinese ist Ding Liren Weltmeister im Schach. Der 30-Jährige setzte sich am Sonntag im Tiebreak gegen seinen russischen Konkurrenten Ian Nepomniachtchi durch und sicherte sich den Titel.

Wann gab es zuletzt solch eine Schach-WM? Knapp drei Wochen ging es zwischen dem Chinesen Ding Liren und dem Russen Ian Nepomniachtchi hin und her. Die Hälfte aller Partien wurde direkt entschieden, es gab viel weniger Unentschieden als in den Jahren zuvor.

Lange führte der Russe, kurz vor Schluss glich der Chinese aus. Nach 14 Partien gab es noch keine Entscheidung, die brachte am Sonntag erst ein Tie-Break. Nun, nach drei spektakulären Wochen in Astana, steht der neue Schach-Weltmeister fest: Ding Liren tritt die Nachfolge von Magnus Carlsen an. Der war nach zehn Jahren Regentschaft freiwillig nicht mehr angetreten - aus Motivationsgründen.

"Nepo" und Ding, die Nummer zwei und drei der Welt, spielten von Beginn an mutig und offensiv nach vorne. Gegen Carlsen wurde fast jeder Fehler bestraft - deswegen gingen seine Herausforderer bei der WM meist kaum Risiken ein. Nun, ohne den übergroßen Schatten des Norwegers, wurde die WM zu einem Offensivspektakel, voller neuer Ideen und Züge. Ein Schlagabtausch, der auch von den Fehlern des jeweils anderen lebte - aber trotzdem eine WM auf hohem spielerischen Niveau, vor allem in der Offensive. Spätestens nach der vierten Partie entwickelte diese Schach-WM dann, auch ohne Superstar Carlsen, noch einen echten Hype.

Ding spricht offen über mentale Probleme

Dabei fürchteten viele, dass nach zwei Partien schon eine Vorentscheidung gefallen war. Der Chinese Ding Liren verlor mit den weißen Figuren, nach gerade einmal 29 Zügen - er hatte zwar mit einem ungewöhnlichen Bauernzug vor seinem Turm alle überrascht, war dann aber überspielt worden. Nun saß er auf der Pressekonferenz, berichtete offen von seinen mentalen Problemen und dem Druck, der erste chinesische Weltmeister werden zu können. Er wirkte nicht nur deprimiert, er gab das auch offen zu. Dass und wie er sein Seelenleben offen preisgab, wurde zu einem weiteren Kapitel dieser besonderen Schach-WM.

Fast schon abgeschrieben, wirkte er in der dritten Runde dann kämpferisch, wie ausgewechselt. Es reichte zu einem sicheren Remis, immerhin ein halber Punkt. Am Tag darauf Partie vier, das Selbstvertrauen des Chinesen ist zurück und er gleicht mit einem Sieg aus. 2:2 nach vier Partien. Ein wilder Start. Aber nur der Aufgalopp, denn danach ging es erst so richtig los.

Im Schatten des Schach-Königs

Niklas Schenk, Sport inside, 20.04.2023 13:00 Uhr

Spielerische Glanzlichter: Partien fünf und sechs

Partie fünf: "Nepo" beginnt wie so oft mit der spanischen Variante, "Ruy Lopez", ein Klassiker. Königsbauer, Springer und Läufer werden schnell entwickelt, kaum etwas wird häufiger gespielt. Der Russe entwickelt aus diesem Klassiker heraus einen Vorteil, den er immer weiter ausbaut. Der Chinese macht kaum einen Fehler und ist trotzdem chancenlos.

Partie sechs: Wie hat sich Ding von der Niederlage zuvor erholt? Offenbar gut. Nun hat er die weißen Steine und spielt seinerseits auf Sieg. Im 41. Zug zieht er seinen Bauern ein Feld nach vorne, auf d5. Die Schachcomputer zeigen sofort an: Jetzt hat er einen großen Vorteil. Millionen Zuschauer an den Bildschirmen rätseln derweil, worin der Vorteil besteht. Der Schach-Computer zeigt uns allen an, was der beste Zug ist - aber die Idee dahinter verstehen selbst Super-Großmeister erst nach einigen Minuten.

"Ich sehe es nicht, warum hat er den Bauern gezogen?", fragt sich der Niederländer Anish Giri, immerhin Nummer sechs der Weltrangliste, im Livestream von "chess.com". Er rätselt und rätselt, dann sieht er, was Ding schon lange im Voraus gesehen haben muss: Später verwehrt dieser Bauer dem gegnerischen König das einzige Fluchtfeld, um Matt zu entkommen. "Nepo" spielt noch ein paar Züge. "Was wir gerade gesehen haben, zählt zu den schönsten Partieschlüssen der WM-Geschichte", kommentierte Dawid Howell, ebenfalls Schach-Großmeister und Carlsen-Kumpel aus dessen Firmenimperium.

Anish Giri nachdenklich

Anish Giri nachdenklich

Es gäbe noch viel mehr zu erzählen: Wie Ding in einer Partie einen großen Vorteil hat, dann aber unter Zeitdruck den Sieg verschenkt. Wie "Nepo" 82 Züge um einen Sieg kämpft, dann aber doch dem Remis zustimmt. Und vor allem: Wie der Russe in der 12. Partie den WM-Sieg schon vor Augen hat, dann aber mit einem unerklärlichen Bauernzug die Partie doch noch verliert. Mehr als eine Viertelstunde quält er sich am Brett nach seinem unglaublichen Patzer und die ganze Welt sieht ihm beim Leiden zu - das tut weh und stellt sich später als die Vorentscheidung der ganzen WM heraus. "Nepo", der schon 2021 Carlsen unterlegen war, hat es wieder nicht geschafft.

Auch Carlsen selbst fand diese WM aufregend

Bei dieser Schach-WM gab es viel mehr Fehler als in den Jahren zuvor, aber auch viel Klasse - und ein Spektakel, über das sich Schachfans nur freuen können. Das sieht auch der freiwillig entthronte Norweger Carlsen so. "Es war ein aufregendes Match. Ich hätte defensiv ein höheres Niveau erwartet, aber bin sehr beeindruckt, wie beide Spieler immer wieder Vorteile in den Partien entwickelt haben und wie wenig sie dazu in der Lage waren oder es wollten, die Partien so früh wie möglich abzuflachen", sagte er vor wenigen Tagen: "Es gab viele komplizierte Stellungen aus den Eröffnungen heraus. Wenn das so ist, gibt es mehr Fehler. In den vorherigen WM-Matches haben meine Gegner vor allem mit schwarz oft die solidesten Varianten gewählt, um wenige Risiken einzugehen, was vermutlich gegen mich auch die beste Strategie ist."

"Schach versucht sicherlich, ein eSport zu werden"

Francois Duchateau, Sportschau, 27.04.2023 15:06 Uhr

Viele sehen diese spektakuläre WM, ohne Carlsen, mit so vielen entschiedenen Partien, als besten Beweis dafür, dass der WM-Modus nicht weiter angepasst werden muss. Spannend war es in Astana ja tatsächlich. Aber die Diskussionen dürften trotzdem weitergehen.

Carlsen hat der Spannung der Schach-WM einen Gefallen getan mit seinem Rückzug. Ob er noch einmal versucht, die Schach-Krone zurückzuerobern? Vollkommen unklar. Sollte sich der Norweger künftig entscheiden, doch wieder Weltmeister sein zu wollen, muss er sich über das Kandidatenturnier qualifizieren. Das ist Anfang 2024. Fest steht nach dieser WM aber auch: Den neuen Weltmeister Ding Liren wird auch ein Magnus Carlsen nicht im Vorbeigehen schlagen.