Tadej Pogacar und das UAE Team im Frühjahr 2023 bei einer Streckenbesichtigung in Belgien

Tour de France Die Kunst der Streckenbesichtigung

Stand: 23.06.2023 07:22 Uhr

Eine Tour de France wird mit den Beinen entschieden. Nicht unwichtig sind aber auch der Kopf und das Wissen, wie genau eine Etappe verläuft. Deshalb fahren viele Teams entscheidende Etappen im Vorfeld ab, manche sogar mit einigen Profis. Bei anderen sind nur die sportlichen Leiter als Scouts unterwegs. Ein Überblick.

Die Tour de France beginnt oft schon im Winter des Vorjahres. Wenn die Strecke in groben Zügen bekannt ist, wird in jedem Rennstall ausbaldowert, für welchen Fahrer das Profil am besten geeignet ist und ob sich im eigenen Kader jemand befindet, der sich ernsthaft Chancen auf das Gesamtklassement machen kann. Denn von dieser Einschätzung ist auch abhängig, wieviel Aufwand in den kommenden Monaten bei der Streckenbesichtigung vorab betrieben wird.

Da gibt es den kostensparenden Ansatz mit einem Sportlichen Leiter, der die wichtigsten Passagen mit der Videokamera dokumentiert. Andere Teams nutzen Trainingslager ganz in der Nähe oder auch Wettkämpfe unweit der Grand-Tour-Etappen, damit auch die Fahrer einen Blick auf neuralgische Abschnitte werfen können. Großen Aufwand betreiben Rennställe, die die Tour de France gewinnen wollen.

Recon

Im Radsport-Jargon wird die Streckenbesichtigung als Recon bezeichnet. Das ist die Kurzform für das französische Wort Reconnaissance, was soviel wie Erkundung heißt.

3.000 bis 4.000 Euro für ein Recon

"So ein Recon kann ganz schön ins Geld gehen. 3.000 bis 4.000 Euro gehen bei ein paar Nächten Unterkunft und Anreise schon drauf. Man will das ja dann auch zum Training nutzen, nimmt neben sportlichen Leitern und ein paar Rennfahrern auch Masseure und Mechaniker mit", erzählt Mauro Gianetti, Teamchef des zweimaligen Tour-de-France-Gewinners Tadej Pogacar, der Sportschau. In diesem Jahr kann der Schweizer freilich etwas Geld einsparen. Wegen seines Handgelenkbruchs beim Klassikermonument Lüttich-Bastogne-Lüttich verpasste Pogacar nicht nur ein paar Vorbereitungsrennen. Er musste auch ein paar schon länger geplante Streckenbesichtigungen ausfallen lassen. Denn mit frisch operiertem Handgelenk ließen ihn die Ärzte nicht auf die Straße.

Ein Kurztrainingslager in Sestriere bot dann aber doch noch Gelegenheit, einige Abschnitte des großen Alpenblocks zwischen der 13. und 17. Etappe dieser Frankreichrundfahrt unter näheren Augenschein zu nehmen. Pogacar versucht, die Nachteile, die aus weniger Reconaissance-Zeit bestehen, im letzten Moment noch zu minimieren. Denn Strecken selbst abgefahren zu sein, kann vor allem für eher intuitiv agierende Radprofis wie Pogacar einer ist, von großem Vorteil sein.

Daten mit Leben erfüllen

Das Roadbook, der ausgedruckte oder als PDF verfügbare Streckenplan, enthält nur ganz grobe Informationen. Eine Besichtigung erfülle hingegen "die Höhenprofile und Linien auf Karten mit Leben", erklärte Lennard Kämna, derzeit der talentierteste deutsche Rundfahrer, anlässlich der ausführlichen Streckenbesichtigungen dieses Giro d’Italia, die sein Rennstall vornahm. "Für uns ist es wichtig zu wissen, wie die Straßenbeschaffenheit an gewissen Anstiegen oder Abfahrten ist, wie schmal oder breit einzelne Passagen tatsächlich sind und wie die eine oder andere Zieleinfahrt im Detail aussieht. Mit diesem Wissen und diesen Bildern im Kopf bekommt man eine Idee davon, was an bestimmten Punkten im Rennen passieren könnte, wo es wichtig ist, in Position zu sein und wann sich eine Möglichkeit zur Offensive bieten würde", erläuterte Kämna.

Auch Kämnas sportlicher Leiter Jens Zemke hält die Streckenbesichtigungen vor allem für die Fahrer für wertvoll. "Ich muss ehrlich sagen, mir würde es mehr bringen als Fahrer", sagte der Ex-Profi der Sportschau. "Denn dann spürst du die Strecke, du weißt wie der Asphalt ist. Ist die Abfahrt wirklich gefährlich? Wenn mir hingegen einer nur erzählt: 'Achtung, da kommt eine technische Abfahrt', dann weiß ich zwar, dass so etwas kommt. Aber viel mehr weiß ich eigentlich nicht. Und wir können bei so einem Meeting von zehn, 15 Minuten vor dem Start den Rennfahrern nicht jedes kleine Details erklären, auf das es ankommen könnte. Von daher bringt ein Recon für den Fahrer immer mehr als nur für den sportlichen Leiter", erklärt Zemke.

Der Wiesbadener, in den 1990er Jahren immerhin dreimal deutscher Bergmeister, gibt sich aber auch mit dem Spatz in der Hand zufrieden: "Lieber macht der sportliche Leiter einen Recon als gar keiner. Die Rennfahrer haben ja auch einen vollen Terminkalender. Die haben Höhentrainingslager, fahren Rundfahrten und sind froh, wenn sie zwischendrin mal fünf Tage zu Hause sind. Da kannst du nicht auch noch sagen: 'Ja, hier im April, zwischen den Ardennen-Klassikern und einem Höhentrainingslager gehen wir noch mal in die Alpen."

Recon-Pragmatiker Denk und Lefevere

Anders als beim Giro d’Italia, wo Bora-hansgrohe als Titelverteidiger antrat und mit der Doppelspitze Alexander Wlassow und Lennard Kämna auch das Klassement im Auge hatte, geht der Rennstall mit nicht ganz so hohen Klassement-Ambitionen in die Tour - und betreibt deshalb auch weniger Aufwand bei der Streckenbesichtigung. "Wir haben uns jetzt vielleicht fünf, sechs Etappen angeschaut, darunter auch das Zeitfahren, das eine Mischung aus Flach- und Bergzeitfahren ist. Wir haben uns die Baskenlandetappen angesehen. Aber eigentlich wird die Taktik überall relativ einfach sein: Du musst einfach hinter Jumbo-Visma und UAE hinterherfahren", sagt Rennstall-Chef Ralph Denk trocken zur Sportschau.

In seinen Bilanzen schlägt ein Reconaissance-Tag mit Fahrern, Masseur und sportlicher Leitung mit "plus minus 1.000 Euro" zu Buche, erzählt er. Da muss man schauen, wie man die Ressourcen einsetzt. "Im Idealfall könnte man alles abfahren. Aber das ist wahrscheinlich nicht zielführend, denn man muss sich ja auch alles merken können", nennt Denk gegenüber der Sportschau ein anderes einschränkendes Moment.

Bei der Dauphiné-Rundfahrt konnte in den Bergen kein Profi am Hinterrad von Jonas Vingegaard bleiben

Bei der Dauphiné-Rundfahrt konnte in den Bergen kein Profi am Hinterrad von Jonas Vingegaard bleiben.

Und deshalb ist das Ausmaß der Streckenbesichtigung auch immer abhängig vom Budget eines Rennstalls, den Zielen für das jeweilige Rennen und auch von den logistischen Möglichkeiten. "Wir machen nicht das Maximale, sondern nur das Nötige. Wir brauchen auch nicht so viele Leute dabei wie manche anderen Teams. Julian Alaphilippe hat sich die spanischen Etappen angeschaut und auch die in der Region um Clermont-Ferrand. Er lebt da ja in der Nähe", erzählte Patrick Lefevere, Chef von Soudal Quick Step, der Sportschau.

Sein Rennstall kommt ohne Rundfahrtstar Remco Evenepoel zur Tour. Für die Alpenetappen reicht daher auch das Basiswissen à la Bora: Man muss eben den großen Favoriten Jonas Vingegaard von Jumbo-Visma und Tadej Pogacar von UAE möglichst lange hinterherfahren. Deren Hinterräder dürften bei einigen Mitfahrern stärkere Eindrücke im Sehzentrum des Großhirns hinterlassen als manche Abfahrt und mancher Anstieg. Streckenbesichtigung ist – wie eigentlich alles im Straßenradsport - abhängig von ganz vielen Faktoren. Und auch die beste Kenntnis nützt nichts, wenn die Beine nicht die Kraft haben, all das Wissen auf die Straße zu bringen.