Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard bei der 15. Etappe der Tour de France
Tourreporter

Tour de France Vingegaard mit psychischem Vorteil gegenüber Pogacar

Stand: 17.07.2023 10:45 Uhr

Bei der letzten Bergankunft der Tour de France kontert Jonas Vingegaard die Attacken von Tadej Pogacar mühelos. Der Däne hat jetzt einen psychischen Vorteil, muss aber hoffen, dass zwei seiner Helfer den von einem Fan verursachten Sturz gut überstanden haben.

Von Michael Ostermann, Saint-Gervais

Es gab für Sepp Kuss eigentlich keinen Grund, vergnügt zu sein. Aber der Amerikaner schlängelte sich dennoch mit einem breiten Lächeln durch die zahlreichen Menschen, die sich rund um die auf einer Brücke in Saint-Gervais geparkten Teambusse tummelten. Dabei hätte man gut nachvollziehen können, wenn Kuss eher keine Lust mehr gehabt hätte auf Radsport-Fans, die die Nähe zu den Profis suchen.

Kuss kollidiert mit einem Zuschauer

Kuss ist der wichtigste Helfer von Jonas Vingegaard, dem Mann im Gelben Trikot. Aber diesmal hatte er nicht lange an der Seite des Dänen sein können am Schlussanstieg der 15. Etappe der Tour de France hinauf nach Saint-Gervais Mont-Blanc. Schon knapp fünf Kilometer vor dem Ziel hatte Kuss dem Tempo in der Gruppe rund um das Maillot Jaune nicht mehr folgen können. Dabei war das Tempo diesmal gar nicht so exorbitant hoch gewesen.

Für Vingegaards Edelhelfer hatte der Tag mit einem unsanften Kontakt mit dem Asphalt begonnen. Kuss war mit dem Zuschauer kollidiert, der offenbar ein Selfie machen wollte und sich just in dem Moment mit ausgestrecktem Arm wieder zum Fahrerfeld umdrehte, als der Amerikaner an ihm vorbeikam.

Der Radprofi verlor die Kontrolle über sein Rad, stürzte und nahm dabei auch noch seinen Teamkollegen Nathan van Hooydonck mit. Die Kollision verursachte einen Massensturz, in den rund 20 Fahrer verwickelt waren. "Ich hoffe, meine Teamkollegen sind beide okay", sagte Vingegaard, wohl wissend, dass er seine Helfer noch brauchen wird im Sekundenkampf mit Tadej Pogacar um das Gelbe Trikot.

Appelle des Tourveranstalters an Fans verpuffen

Die Zuschauer und ihr Verhalten sind ein Dauerthema bei dieser Tour. Zu Beginn der Frankreich-Rundfahrt waren im Baskenland Reißzwecken auf die Strecke gestreut worden, auf den Anstiegen rennen immer wieder einzelne Fans neben den Fahrern her und kommen ihnen dabei gefährlich nah. Andere Zuschauer halten es für eine gute Idee, Bengalos mit großer Rauchentwicklung zu zünden, wenn das Peloton vorbeikommt.

Alle Appelle des Tourveranstalters ASO, der schon seit Jahren mit TV-Spots zu mehr Respekt vor den Fahrern aufruft, scheinen bei einigen Zuschauern schlichtweg zu verpuffen. In Saint-Gervais forderte der von der ASO beauftragte Interviewer deshalb nun Vingegaard und seinen Widersacher Tadej Pogacar auf, das Wort an jene Fans zu richten, die sich am Streckenrand unverantwortlich verhalten.

"Versucht einfach, vorsichtig zu sein. Schaut auf die Fahrer, nicht auf die Helikopter oder euer Telefon", sagte Pogacar. "Genießt den Moment, wenn wir vorbeikommen." Auch Vingegaard forderte die Zuschauer auf, am Straßenrand zu bleiben. Man könne den Fans ja nicht verbieten, zu kommen. "Aber ihr müsst euch einfach gut verhalten", sagte der Däne.

Vorentscheidung im Zeitfahren?

Welche Auswirkungen der Sturz seiner beiden Teamkollegen auf das Rennen haben wird, ist schwer abzuschätzen. Kuss war danach relativ schnell wieder auf dem Rad. Eine Bandage am rechten Arm war das einzig sichtbare Zeichen der Sturzfolgen. Van Hooydonck brauchte länger, um sich wieder zu berappeln und kam rund 35 Minuten nach dem Etappensieger Wout Poels ins Ziel. Beiden dürfte der nun anstehende Ruhetag gelegen kommen - und auch das schwere Zeitfahren am Dienstag spielt für sie keine große Rolle, sie müssen nur durchkommen.

Anders sieht das für Vingegaard und Pogacar aus. Der Kampf gegen die Uhr wird mitentscheidend für den Gesamtsieg werden. Pogacars Versuche, dem Dänen das Gelbe Trikot zu entreißen oder zumindest den Abstand zu verringern, liefen auch auf der 15. Etappe ins Leere, was den Slowenen zunehmend zu nerven scheint. "Der Berg war zu leicht für Jonas", vermutete er.

Psychospielchen vor der Ziellinie

Diesmal hatte das UAE-Team sich einen besonderen taktischen Kniff überlegt und den Briten Adam Yates etwa vier Kilometer vor dem Ziel nach vorne geschickt. Dort war mit Marc Soler auch noch ein anderer Teamkollege des Slowenen unterwegs. "Der Plan, war, dass die beiden Tadej nach einer Attacke unterstützen sollten", erklärte Matxin Joxean Fernandez, der Sportdirektor der Equipe: "Der Plan war perfekt, aber da gibt es eben einen anderen sehr starken Fahrer im Gelben Trikot." Tatsächlich konterte Vingegaard den Angriff Pogacars mühelos.

Und als der Slowene es kurz vor der Ziellinie noch einmal versuchte, zog Vingegaard sogar vorbei und warf seinem Rivalen einen triumphierenden Blick zu. Es sind solche Spielchen, die nun auch eine Rolle spielen in dem Duell um Sekunden zwischen den beiden.

Vingegaard hat Pogacar im Zeitfahren vor sich

Vingegaard nimmt diesen kleinen Triumph nun mit in das Zeitfahren und hat zudem den Vorteil, dass er nach Pogacar starten darf und damit immer genau weiß, wie der Abstand zu seinem Konkurrenten ist, während der Slowene gezwungen ist, die Pace zu setzen. Andererseits kommt der 22,4 Kilometer lange, bergige Kurs zwischen Passy und Combloux Pogacar und dessen Explosivität möglicherweise eher entgegen.

"Im Zeitfahren wird es, denke ich, größere Abstände geben", vermutet Vingegaard. Zu wessen Gunsten? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Bei Vingegaards Team dürften sie darüber hinaus auch auf die 17. Etappe schauen, die von Saint Gervais nach Courchevel führt und am Ende mit dem Col de la Loze einen 28,1 Kilometer langen und vor allem auf den letzten fünf Kilometern sehr steilen Anstieg bereit hält, bevor es hinunter ins Ziel geht.

"Das wird die Königsetappe", sagte Vingegaard, dem diese langen Anstiege etwas mehr zusagen als Pogacar. Und wenn da immer noch keine Entscheidung gefallen sei, gebe es ja auch noch die 20. Etappe in den Vogesen. "Diese Duelle, die wir uns liefern, werden jeden Tag besser und besser", erklärte der Däne in Saint Gervais. "Für die Zuschauer wird das sehr aufregend."