Egan Bernal
Tourreporter

Tour de France Egan Bernal und der schwierige Weg zurück

Stand: 14.07.2023 07:23 Uhr

Als Egan Bernal 2019 die Tour de France gewann, schien das wie der Beginn einer neuen Ära. Nach seinem verheerenden Unfall im Januar vergangenen Jahres steht er nun wieder in Frankreich am Start und muss mit seinen eigenen Ansprüchen umgehen.

Von Michael Ostermann, Belleville-en-Beaujolais

Jeden Tag so um die Mittagszeit, bevor sich das Peloton auf den nächsten Tagesabschnitt begibt, rollen die Radteams nacheinander auf eine Bühne, um sich für die Etappe einzuschreiben. Dort reihen sich die Fahrer der jeweiligen Mannschaft dann nebeneinander auf und werden einzeln dem Publikum vorgestellt.

Wenn das Team Ineos-Grenadiers dran ist, steht Egan Bernal - von vor der Bühne aus betrachtet - ganz rechts außen. Dort stehen in der Regel die Kapitäne der jeweiligen Equipe. "Der Toursieger von 2019", rufen die Sprecher. Der Kolumbianer winkt, das Publikum jubelt und applaudiert. Das ist dann einer dieser schwierigen Momente für Egan Bernal, 26, aus Bogotá in Kolumbien.

Verheerender Unfall statt einer neuen Ära

Vier Jahre ist es her, da saß Bernal in einer schmucklosen Turnhalle in Val Thorens und gab eine Pressekonferenz als designierter Toursieger. Einen Tag später fuhr er im Gelben Trikot nach Paris. Die meisten Beobachter waren sicher, dass sie dort gerade den Beginn einer neuen Ära erlebten. Bernal - das war die einhellige Meinung - werde die Tour de France auf Jahre hinaus dominieren. Schließlich war der Kolumbianer gerade erst 22 Jahre alt - der jüngste Sieger seit 1904.

Doch es kam anders. Bernal beendete die Tour 2020 vorzeitig mit Knie- und Rückenproblemen, gewann im Jahr darauf den Giro d'Italia und verzichtete dafür auf einen Auftritt in Frankreich. Das waren die Jahre, in denen Tadej Pogacar seine beiden Toursiege feierte. Für 2022 galt Bernal als erster Herausforderer für den Slowenen. Bis zu jenem fatalen Tag im Januar, als er in seiner Heimat beim Training auf dem Zeitfahrrad in einen stehenden Bus raste.

Multiple Knochenbrüche und Perforation beider Lungenflügel waren die Folge - Bernal rang um sein Leben, es drohte eine Querschnittslähmung. Er muss die Geschichte auch in diesen Tagen bei der Tour immer wieder erzählen. Er tut das mit fester Stimme und ohne Anzeichen von Unwillen. "Mein erstes Ziel war es, wieder gut laufen und ein normales Leben führen zu können", sagt Bernal dann. Er habe in dieser Zeit nicht im Kopf gehabt, überhaupt zur Tour de France zurückzukehren.

Egan Bernal

Egan Bernal bei der Tour de France

Der Leader ist nun Helfer

Doch nun ist er wieder da und wird den Leuten morgens am Start als ehemaliger Toursieger vorgestellt. Es war ein Wagnis, auch für das Team. "Ich wusste nicht wirklich, was mich erwartet, also bin ich nicht mit einer klaren Vorstellung gekommen", sagt Bernal. "Jetzt ziehe ich das Positive daraus: dass ich mich gut erhole, dass ich nicht leide, dass ich meinen Teamkollegen helfen kann", sagt er.

Bernal als Helfer für seine Teamkollegen. Das ist die Rolle, die ihm nun zugefallen ist. Und natürlich ist das schon mehr, als man unmittelbar nach dem Unfall hätte erwarten dürfen. Aber eben doch auch schwer zu bewältigen für jemanden, dessen Weg ein anderer zu sein schien. "Er weiß, dass er ohne den Unfall als unser Leader hier sein würde", sagt Rod Ellingworth, der Leiter von Bernals Team Ineos-Grenadiers. "Egan ist Egan, er hat immer ein Lächeln im Gesicht. Er arbeitet wirklich hart, aber man spürt einfach, dass er mehr will. Das muss ziemlich schwierig für ihn sein."

Rückkehr in der Zeit der Wunderkinder

Während Bernal in den vergangenen anderthalb Jahren um seine Rückkehr kämpfte, hat sich die Welt des Radsports um ihn herum geändert. Es ist die Zeit der Wunderkinder angebrochen. Die Tour wird von Pogacar und seinem Widersacher Jonas Vingegaard dominiert. Die beiden sind dem Rest der Klassementfahrer deutlich überlegen.

Dahinter kämpfen die Normalsterblichen um den dritten Podiumsplatz. Dazu gehören auch Tom Pidcock, 23, und Carlos Rodriguez, 22. Beides Teamkollegen von Bernal, denen man in Zukunft etwas zutrauen darf bei der Tour de France. Pidcock und Rodriguez sollen in diesem Jahr einen weiteren Schritt in ihrer Entwicklung machen. Der Brite liegt in der Gesamtwertung derzeit auf Rang acht, der Spanier ist derzeit sogar Vierter mit einem Rückstand von 1:42 Minuten auf den Australier Jai Hindley auf Platz drei.

Bernal stellt sich in die Dienste der beiden Teamkollegen, weshalb man ihn in den vergangenen Tagen immer wieder an der Spitze des Feldes hat sehen können, im Wind als Arbeiter für das Team. Vor allem im Hochgebirge soll Bernal die jungen Kollegen in den kommenden Tagen unterstützen, wenn der Kampf um das Klassement in den Alpen Fahrt aufnimmt. "Er weiß jetzt, wo er in der Reihenfolge steht, er weiß jetzt, wo er in der Hierarchie nicht nur unseres Teams, sondern auch des restlichen Pelotons steht", sagt Ellingworth.

"Ihm geht es nur um die Zukunft"

Nach zwölf Etappen, etwas mehr als der Hälfte der Tour de France, liegt Bernal in der Gesamtwertung auf Rang 29. Sein Rückstand auf das Gelbe Trikot beträgt 36:58 Minuten. Doch darüber mache er sich keine Gedanken, "weil ich nicht auf dem Niveau bin, auf dem ich sein sollte". Jeder Angriff, jeder Tempowechsel fühle sich derzeit für ihn dreimal so stark an. Er versuche, nur für sich auf einem guten Level zu sein und irgendwie herauszufinden, "was mein Niveau sein könnte, wenn ich bei 100 Prozent wäre".

Ob er dieses Niveau irgendwann noch mal erreicht, weiß niemand. Der viermalige Toursieger Christopher Froome hat nach einem vergleichbaren Unfall nie wieder zur alten Form zurückgefunden, war aber auch schon älter als Bernal, als er versuchte, sich zurückzukämpfen. "Er ist nicht niedergeschlagen, er denkt sehr viel an die Zukunft", sagt Ellingworth über Bernal. "Deshalb ist er ja auch hier, um ehrlich zu sein. Ihm geht es nur um die Zukunft." Bis dahin bleibt er für das Publikum der Toursieger von 2019.