Pferdesport Diskussion um Modernen Fünfkampf - Chance für den Reitsport

Stand: 03.09.2021 14:37 Uhr

Als die Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu bei den Olympischen Spielen in Tokio gegen ihr Pferd Gerte und Sporen zum Einsatz bringt, folgt im Anschluss eine regelrechte Schlammschlacht. Dabei hätte es durchaus die Chance gegeben, konstruktiv mit der Situation umzugehen.

Wo hört Reitsport auf und wo fängt Tierquälerei an? Eine ewig alte Diskussion, die mit den Ereignissen im Modernen Fünfkampf bei den Olympischen Spielen in Tokio neues Futter bekommen hat. Zu sehen ist ein Pferd, das ziemlich deutlich signalisiert: Nein, das hier mache ich nicht nochmal. Aufgerissene Augen, geblähte Nüstern, eine hochgezogene Oberlippe, angespannte Muskeln - und ein deutliches Zurückweichen vor der Situation.

Der Wallach Saint Boy tut, was er kann, um sich Gehör zu verschaffen. Aber für seine Reiterin Annika Schleu steht alles auf dem Spiel. Die Favoritin auf die Goldmedaille im Modernen Fünfkampf reitet mit deutlicher Führung in diesen Springparcours. Doch das ihr zugeloste Pferd macht klar, dass es die Zusammenarbeit mit der Reiterin in dieser Situation verweigert.

Das ist der perfekte Moment, um die Szene zu stoppen und mal kurz Luft zu holen. Nachzudenken, was hier eigentlich passiert. Wessen Interessen mehr wiegen - die der Reiterin oder die des Pferdes?

Welle der Empörung in den sozialen Netzwerken

Im Springparcours in Tokio gibt es diese Stopptaste nicht, die Szene geht wie folgt weiter: Die Reiterin kämpft mit den Tränen, das Pferd läuft weiter rückwärts und von der Seite ruft die ebenfalls hilflose Trainerin: "Hau drauf, hau richtig drauf!", woraufhin Schleu zögerlich, aber dennoch deutlich Gerte und Sporen zum Einsatz bringt.

Was folgt ist eine Welle der Empörung. In den sozialen Netzwerken wird heftig diskutiert. Es folgen Gewalt- und Morddrohungen in alle Richtungen. Reitsportfans gegen Tierschützerinnen und Tierschützer - eine regelrechte Schlammschlacht.

Moderner Fünfkampf ist die Fortführung militärischer Ausbildung

Um den Konflikt zu verstehen, hilft ein Blick auf die Geschichte des Modernen Fünfkampfs. Wer sich die Disziplinen anschaut begreift schnell: Das hier ist die Fortführung von militärischer Ausbildung. Laufen, Schwimmen, Fechten, Reiten und schießen heißen die Disziplinen. Disziplinen, die aus einer Zeit stammen, als Menschen - oder besser gesagt Männer - noch zu Pferd in die Schlacht ritten.

Die Grundwerte der militärischen Ausbildung haben im Modernen Fünfkampf überlebt: unbedingter Gehorsam, Kampf- und Einsatzwillen. Auch dann, wenn's eigentlich weh tut.

Bei Fünfkämpferin Annika Schleu klingt das nach dem Wettkampf so. Auf die Frage, ob es für sie schwer war, nach dem Drama im Springparcours noch den Laserrun zu absolvieren antwortet sie: "Es ist bei uns im Fünfkampf so ein Mantra: Der Wettkampf wird zuende gemacht, es sei denn, man hat sich wirklich schwer verletzt."

Grundlagen der reiterlichen Ausbildung sind veraltet

Kann man aus einer solchen Tradition heraus eine Entscheidung treffen, die sich am Tierwohl orientiert? Dr. Nele Maya Fahnenbruck hat sich mit der historischen Perspektive auf den Reitsport beschäftigt. Mit einer Zeit, als das Pferd noch als Kriegswaffe im Einsatz war. Als unbedingter Gehorsam des Pferdes die Grundlage dafür war, das Pferd überhaupt nutzen zu können.

Auch wenn Pferde mit Ende des Zweiten Weltkrieges langsam vom Nutztier zu einer Art Familienmitglied wurden, stammen die Grundlagen der reiterlichen Ausbildung in Deutschland immer noch aus einer Zeit, in der Pferde eben dafür genutzt wurden, auf ihnen in den Krieg zu ziehen, erklärt Fahnenbruck im Podcast "Sport inside".

Das führt dazu, dass es immer noch ein Machtgefälle gibt zwischen Reitern und Pferden. Und der Wille der Reiterinnen Priorität hat vor den Bedürfnissen des Pferdes. Diese Erkenntnis hat Fahnenbrucks Umgang mit Pferden geprägt. Sie steigt heute nicht mehr auf, um zu reiten, sondern begegnet den Pferden auf Augenhöhe. 

Körpersprache muss stärker in die Ausbildung integriert werden

Grundsätzlich gegen das Reiten ist sie deshalb nicht. Aber es muss sich etwas ändern, findet auch Journalistin und Pferdesportexpertin Leonie Merheim, die für den WDR auf dem Instagram-Kanal "Die mit den Pferden" regelmäßig Themen rund um den Reitsport präsentiert.

"Im Grunde ist Reiten ja schon extrem fortgeschritten", sagt sie im Podcast "Sport inside". Bevor man sich überhaupt auf ein Pferd draufsetzen kann, müssen erstmal Grundfertigkeiten am Boden erlernt werden. Dazu gehört der Umgang mit dem Pferd, seine Sprache zu lernen, um mit ihm kommunizieren zu können.

Auch die Pferde lernen zunächst vom Boden aus und ohne Gewicht auf dem Rücken, was die Reiter und Reiterinnen eigentlich von ihnen wollen, wenn sie schnalzen, oder vom Boden aus verbale Anweisungen geben. Geübte Pferdemenschen können diese Aufforderungen übrigens allein durch ihre Körpersprache kommunizieren.

Genau diese Körpersprache gilt es, stärker in die Ausbildung von Reiterinnen und Reitern zu integrieren, findet Merheim. Denn nur dann können Menschen die nonverbalen Zeichen richtig deuten und sich stärker als bisher an den Bedürfnissen der Pferde orientieren.

Denn das Ziel aller Reiterei sind nicht Medaillen und Preisgelder, so kommuniziert es auch die Deutsche Reiterliche Vereinigung. Das Ziel der Reiterei ist die Harmonie zwischen Reiter und Pferd.

Diskussion muss auch im Breitensport geführt werden

Eine Harmonie, die in 20 Minuten einfach nicht entstehen kann, sagt auch die Journalistin Andrea Schültke im Podcast "Sport inside". Sie stellt nicht nur die Entscheidung der Reiterin in Tokio in Frage, sondern das komplette System hinter dem Modernen Fünfkampf, bei dem es darum geht, auf einem fremden Pferd möglichst schnell und fehlerfrei einen Springparcours zu überqueren, um Punkte zu sammeln.

Mit Reitsport im eigentlichen Sinne hat das wenig zu tun. Aber selbst wenn die Disziplin im Modernen Fünfkampf in Zukunft durch eine andere ersetzt wird: Szenen wie diese wird es im Reitsport weiter geben. Darüber machen sich Reiterinnen und Reiter kaum Illusionen.

Die Frage ist nur, wie in Zukunft damit umgegangen werden soll. Eine Diskussion, die lange überfällig ist - und die nicht nur im Spitzensport geführt werden sollte, sondern vor allem an der Basis. Im Breitensport.