Moderner Fünfkampf Olympia und der Fall Annika Schleu: "Hau richtig drauf"

Stand: 25.12.2021 09:00 Uhr

Es war der größte Aufreger des Sportjahres 2021 - der Skandal um die Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu bei den Olympischen Spielen. Über einen Tag im August und eine Disziplin, die bald keine olympische mehr ist.

Von Tina Srowig

Ich kenne Annika Schleu nicht persönlich. Vor den Olympischen Spielen im Sommer kannte ich noch nicht einmal ihren Namen. Ich bin Reitsport-Journalistin – und für Außenstehende mag das komisch wirken: Annika Schleu reitet doch auch, sogar bei den Olympischen Spielen, wie kann man sie da als Journalistin nicht kennen?

Aber ich beschäftige mich eben vor allem mit Profireitsport, mit Pferdehaltung, Pferdepflege und dem Freizeitreiten. Mit Menschen, deren Leben oder ein großer Teil ihrer Freizeit sich um den Partner Pferd dreht. Und nicht auch noch ums Fechten, Schwimmen oder Laufen.

Was Annika Schleu getan hat, hat Folgen

In der Pferdecommunity habe ich das diesen Sommer ganz stark so erlebt: Es gibt ein "wir" (Pferdemenschen) und ein "die anderen" (Fünfkämpfer, die ab und zu aufs Pferd steigen).

Um es vorweg zu nehmen: Ich finde es gut und richtig, dass die Disziplin "Springreiten" aus dem Modernen Fünfkampf gestrichen wird – auch wenn es erst nach den Olympischen Spielen 2024 umgesetzt wird. Aus meiner Sicht eine positive Folge von dem, was während des Modernen Fünfkampfs in Tokio passiert ist. Eine Folge von dem, was Annika Schleu getan hat.

Schleu hätte niemals starten dürfen

Was hat sie getan? Am 6. August 2021 habe ich mir die Fernsehbilder angeschaut: Ich sehe eine völlig aufgelöste und verzweifelte Reiterin, die dem Pferd immer wieder mit der Gerte auf den Hintern haut und mit den Sporen in die Seiten trommelt.

Dabei weint sie. Ich sehe die Trainerin Kim Raisner, die "Hau richtig drauf" ruft und das Pferd vom Rand aus in die Seite boxt.

Pferd zeigt deutlich Signale

Und ich sehe ein Pferd. Ein Pferd, das die Augen weit aufreißt, das schwitzt. Ein Pferd, das steigt, die Zähne bleckt, rückwärts läuft. Deutlicher kann es nicht sagen: Ich möchte das nicht, ich bin komplett überfordert, ich will raus aus dieser Situation.

Wenn ich mir die Szenen heute nochmal anschaue, ist für mich das größte Wunder, dass das Pferd Saint Boy mit Annika Schleu danach tatsächlich noch in den Parcours gestartet ist, den sie aber wegen vier Verweigerungen nicht beenden. Sie hätten unter diesen Umständen niemals in diesen Parcours starten dürfen.

Mitgefühl zeigen - für Mensch und Tier

Wenn ich mir die weinende Annika Schleu in dieser Situation anschaue, tut sie mir leid. Wenn ich lese, welchen Kommentaren und welchem Hass im Netz sie danach ausgesetzt war, finde ich das empörend.

Die Kritik an ihrem Verhalten, am Verhalten der Trainerin und am Reglement im Fünfkampf waren richtig und wichtig, denn nur so können die Bedingungen für die Pferde verbessert werden (worum es meiner Meinung nach vor allem gehen sollte). Aber was genau verbessert sich für die Pferde, wenn man eine Person an den Pranger stellt und verbal auf sie eindrischt? Nichts.

Ich weiß, dass es viele Menschen wütend macht, wenn man so etwas sagt. Sie können nicht verstehen, wie man mit einer Person, die ein Pferd so behandelt, Mitleid haben kann. Aber ich frage mich, warum wir den Menschen die Empathie verweigern, die wir den Tieren entgegenbringen. Für mich gehört das untrennbar zusammen: Mitgefühl für andere zu zeigen, egal, ob Mensch oder Tier.

Ausbildung, Trainerin, Reglement - auch darüber muss gesprochen werden

Das heißt nicht, dass Annika Schleu sich richtig verhalten hat. Im Gegenteil. Sie hat sich komplett falsch verhalten. Sie hat dem Pferd geschadet. Sie hat es massiv unter Druck gesetzt und mit ihrem Verhalten extrem gestresst und verunsichert. Sie hatte in dem Moment die Verantwortung für ein Lebewesen – und dieser Verantwortung ist sie nicht gerecht geworden.

Reiter:innen sollten Pferde als Partner sehen, sie stärken und ermutigen und erkennen, wenn sie überfordert sind. Das ist Annika Schleu nicht gelungen. Dass ihr das nicht gelungen ist, ist aber aus meiner Sicht nicht ihr Fehler allein. Auch Ausbildung, Trainerin und Reglement haben zu diesen Umständen beigetragen.

Ich kann nachvollziehen, dass Annika Schleu in dem Moment verzweifelt war. Sie wusste offensichtlich nicht, wie sie sich verhalten soll, hat vermutlich immensen Druck gespürt und sah in wenigen Sekunden alles verloren, wofür sie jahrelang gearbeitet hatte. Eine Olympia-Medaille. Die Enttäuschung und Verzweiflung sind für mich verständlich – auch wenn sie ihr Verhalten nicht rechtfertigen.

Aussagen, die man problematisch finden durfte

Problematisch finde ich, wie sie sich später über ihren eigenen Ritt geäußert hat. Zwei Aussagen in Interviews sind mir besonders aufgefallen. Dem "Stern" sagte sie am 7. August, also einen Tag nach dem Ritt: "Ich bin nach bestem Gewissen mit dem Pferd umgegangen. Es war schon klar, dass man etwas konsequenter werden muss, aber ich war zu keiner Zeit grob."

Der "Zeit" sagte sie wenige Tage später: "Ich war in einem Zwiespalt. Hat es jetzt wirklich keinen Sinn mehr? Oder braucht es noch diesen kleinen Anschubser? Das war verdammt schwierig abzuwägen. Wir Profisportler trainieren ja, nie aufzugeben. Aber es kam noch etwas hinzu. Früher wurde ich von meinen Trainern für meine Zurückhaltung im Umgang mit den Pferden kritisiert. (…) Ich dachte in der Situation, wenn ich jetzt abgrüße, dann bestätige ich den Eindruck, zu inkonsequent zu sein. Also versuchte ich es wieder und wieder."

Wohlwollend könnte man ihr nach dem zweiten Zitat unterstellen, dass sie selbst darüber nachgedacht hat, aufzugeben, dann aber alles richtig machen wollte und so gehandelt hat, wie es ihr die Trainer beigebracht haben. Wer das erste Zitat gewichtiger findet, fragt sich, wie man so wenig Pferdeverstand haben kann, dass man nach so einem Vorfall noch sagen kann, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. Wie Annika Schleu heute auf ihr Verhalten blickt, weiß ich nicht.

Ein Anlass, um sich mit dem Pferdewohl zu beschäftigen

Einen anderen Punkt finde ich aber viel wichtiger. Und das ist gleichzeitig das Positive, was Annika Schleu angestoßen hat: eine Debatte darüber, was eigentlich für die Pferde richtig ist. Beim Fünfkampf, im Spitzensport, im Breitensport.

Denn wir können Pferde nur richtig behandeln, wenn wir ihr Verhalten verstehen. Wenn wir wissen, wie sie lernen, wie sie Vertrauen schöpfen. "Hau richtig drauf", das ist kein Spruch, den nur Annika Schleu gehört hat. "Hau richtig drauf", das ist kein Spruch, der Pferd und Reiter je weitergebracht hätte.

Ich wünsche mir, dass wir die Szenen im Fünfkampf als Anlass nehmen, uns intensiver mit den Pferden zu beschäftigen. Mit dem, was sie brauchen. Mit dem, was ihnen guttut. Dass wir uns ehrlich bemühen, dazuzulernen, vielleicht auch mal eigene Positionen infrage zu stellen. Das ist anstrengend und manchmal auch unbequem. Und aus meiner Sicht das einzig Richtige.

Was wir brauchen, sind nicht noch mehr Hass und Häme. Was wir brauchen, ist mehr Pferdeverstand.