Olympia-Tagebuch Die kleine Freiheit für zwischendurch

Stand: 03.07.2021 15:37 Uhr

Dieser Morgen ist anders. Ich freue mich richtig, den Vorhang zu öffnen, das graue Tokio zu sehen. Heute sogar grau in grau: graue Häuser im grauen Schietwetter. Aber es ist so viel besser als die graue Wand, die mich jetzt eine Woche lang durch mein kleines Quarantäne-Fenster angestarrt hat. Heute wird ein guter Tag.

Von Julia Linn (Tokio)

Es klopft an der Tür, unsere Kontaktfrau zum japanischen Olympia-Organisations-Komitee war einkaufen – aber das ist nicht mal das Beste an ihrem Besuch: Wir dürfen raus! Wie, raus? Wir sind doch in Quarantäne? Bleiben wir auch, aber 15 Minuten zum Einkaufen sind plötzlich erlaubt. Keine Ahnung, wer diese Regel gemacht hat oder woher sie kommt.

Aufpasser? „Ich versuche es“

Unten in der Lobby erwartet mich und meine Kollegen ein Mann mit Klemmbrett. Auf die Frage, ob er unser Aufpasser sei, sagt er: „Ich versuche es.“ Aber an die 15 Minuten müssen wir uns trotzdem halten, Sumimasen – Verzeihung. Mit Zimmer-Nummer, Name und Uhrzeit müssen wir uns aus- und später wieder eintragen.

Die ersten Schritte in Mini-Freiheit. Es regnet, aber das ist okay. Wir freuen uns, dass wir zumindest etwas Natur spüren und sind für den Moment überglücklich. Keine Zeit innezuhalten, ab in den Supermarkt gegenüber, Einkaufen auf Tempo. Wir sind vollkommen überfordert: Es gibt Essen!

Kulinarische Highlights und andere Menschen

In der vergangenen Woche haben wir uns vor allem von selbst mitgebrachten Snacks ernährt. Ich hatte: Knäckebrot, Apfelchips, abgepackte Waffeln, Müsliriegel – kulinarische Highlights der unteren Mittelklasse. Die Freundin einer Kollegin hat uns etwas Obst und Gemüse in den Quarantäne-Knast gebracht, wir haben geteilt. Ich hatte unter anderem drei kleine Tomaten – ja, das Leben als Olympia-Reporterin ist ein glamouröses. 

Aber jetzt geht’s los: Ich eile durch die Supermarkt-Gänge, schließlich müssen wir nach einer Viertelstunde zurück sein. Fast noch aufregender als die vielen Lebensmittel – hier sind andere Menschen. Und ich führe mit einigen unfreiwillig einen kleinen Tanz auf, links oder rechts vorbeigehen? Immer wieder: Sumimasen – Verzeihung. Jetzt sage ich es auch. Denn ich merke: Ich bin das Problem. Hier ist Linksverkehr, auch für Fußgänger im Supermarkt, eigentlich ganz klar geregelt. Die lichtlose Quarantäne hat wohl nicht nur aufs Gemüt geschlagen. Ich habe kurzzeitig vergessen, wie Japan geht. Sumimasen, mit Licht und Luft wird das hoffentlich schnell wieder besser.

Zur Person: Julia Linn arbeitet für den WDR und im ARD-Studio Tokio und berichtet hier täglich von ihren Erfahrungen bei den Olympischen Spielen in Tokio.