Der Japan-Reiseblog von Julia Linn Olympia-Tagebuch: Zwischen Kernkraftwerk und Geisterstädten

Stand: 11.07.2021 15:28 Uhr

Es ist ein Tag, der mich sprachlos macht – geprägt von Erdbeben-Zerstörung und Radioaktivität. Unterwegs in einer Präfektur, in der bald Olympia-Wettkämpfe stattfinden werden.

Ein bisschen fühle ich mich wie ein Katastrophentourist. Wir sind auf dem Weg zu einem Interview in Futaba. In einer Stadt, in der bis heute niemand leben darf, sind wir im neuen Gedenkmuseum verabredet.

Schon auf dem Hinweg fahren wir durch Geisterorte, vorbei an etlichen Schranken – dahinter Sperrgebiete. Betreten strengstens verboten, zu hoch ist dort die Strahlung.

Stillstand seit zehn Jahren

Aber auch außerhalb der Sperrzonen sehe ich Dinge, die ich wohl nie vergessen werde: Auf Parkplätzen stehen noch immer Autos – heute seit genau zehn Jahren und vier Monaten.

Neben den zugewachsenen Autos gibt es Getränke aus dem Automaten. Cola, Wasser, Energydrinks, kalter Kaffee für je 100 Yen – ich greife lieber nicht zu.

Wir kommen an einem Kaufhaus vorbei, die Scheiben sind vom Erdbeben zerbrochen, das Geschäft voller Ware: Taschen, Schuhe, Hüte, Blusen. Vieles liegt noch irgendwie im Regal, einiges auf dem Boden, alles ist durcheinander.

Nicht dauerhaft dort aufhalten

Ich checke das Dosimeter, ein Gerät, mit dem wir unsere Strahlenbelastung messen: 800 Nanosievert pro Stunde – alles im grünen Bereich, solange wir uns hier nicht dauerhaft aufhalten.

Ankunft am Museum: Ich bin auch ohne Ausstellung schon voller Eindrücke. Ein Gang durchs Museum, ein Interview – so der Plan. Geht aber nicht auf.

Vor Ort will plötzlich niemand mit uns sprechen: "Sumimasen, Verzeihung, das darf nur unser Chef und der ist nicht da." Wir waren seit mehreren Tagen angemeldet, verstehen muss man das nicht. Mehr Zeit, unsere Erkundungstour fortzusetzen und die Gegend besser zu verstehen.

Blickkontakt mit dem Kernkraftwerk

Ein paar meiner Kollegen waren schon mal hier, bevor es das Museum gab. Eigentlich müsste man wenige Gehminuten entfernt von der Küste aus das Kernkraftwerk sehen. Wir wollen es versuchen und hoffen, dass uns keine Absperrung dazwischen grätscht.

Und dann ist es ganz einfach: Wir spazieren über die Tsunami-Schutzwand, dann ein paar Schritte noch runter zum Strand. Heute ist es etwas neblig, aber aus etwa zwei Kilometern Entfernung kann ich es sehen, das Katastrophen-Kernkraftwerk – den Wellenbrecher, der weit in den Pazifik ragt, den Abluftkamin, Reaktorblöcke.

Ob das Erlebnis erstrebenswert ist, ich bin mir nicht sicher. Ich bin irgendwie fasziniert, aber auf keine gute Art. Ich schaue auf mein Dosimeter und erwarte irgendwie hohe Werte: 49 Nanosievert pro Stunde, eher ein normales Grundrauschen, im Grunde ist das nichts.

Aber lange hier bleiben möchte man trotzdem nicht, wir machen uns wieder auf den Weg. Genug Katastrophe für heute.

Zur Person: Julia Linn arbeitet für den WDR und im ARD-Studio Tokio und berichtet hier täglich von ihren Erfahrungen bei den Olympischen Spielen in Tokio.