Olympia | Eiskunstlauf-Drama Kölner Professor fordert Mindestalter im Spitzensport

Stand: 23.02.2022 08:36 Uhr

Dopingfall und Zusammenbruch in der Kür: Die Eiskunstläuferin Kamila Walijewa hat bei Olympia gezeigt, dass man mit 15 Jahren dem Druck im Spitzensport kaum standhalten kann. Der Kölner Professor Jens Kleinert fordert jetzt im Sportschau-Interview ein Mindestalter.

Sportschau: Herr Professor Kleinert, die Sportwelt hat den "Fall Walijewa" bei den Olympischen Spielen in Peking noch ganz frisch im Hinterkopf. Sollte die Lehre daraus sein, dass es im Spitzensport ein Mindestalter für Jugendliche geben muss?

Jens Kleinert: "Ich bin grundsätzlich Befürworter eines Mindestalters. Die hohe Bedeutung und die große Medienpräsenz der Olympischen Spiele kann eine extreme Belastung darstellen. Der Druck, den sich die jungen Sportler:innen selbst machen und auch von außen spüren, kann immens sein. Hiermit gehen nicht nur psychosoziale Belastungen einher, sondern teils auch ein Trainingsdruck, also körperliche Ausnahmebelastungen.

Gerade Jugendliche haben noch nicht immer gelernt mit solchen Druckfaktoren umzugehen. Teils wächst die Persönlichkeit langsamer als der Körper, braucht also mehr Anpassungszeit. Diese Zeit und Ruhe ist gerade angesichts von medienwirksamen Großereignissen kaum gegeben. Schließlich stehen auch Trainer:innen und Betreuer:innen in einem schwierigen Spannungsfeld zwischen Erfolgsdruck und dem Schutz ihrer jungen Athlet:innen. Eine klare Regelung würde also auch diese Gruppe entlasten."

Welches Mindestalter halten Sie konkret für angemessen?

Kleinert: "Das lässt sich nicht so pauschal beantworten, weil die körperlichen und mentalen Anforderungen von Sportart zu Sportart sehr unterschiedlich sind. Aber eine Orientierung an der Altersgrenze von 16 Jahren ist aus meiner Sicht das Richtige."

Wo sehen Sie die alters-relevanten Unterschiede bei den Sportarten - hauptsächlich bei der körperlichen Belastung?

Kleinert: "Sicher unterscheiden sich Sportarten in dieser Problematik. Die Vorzüge eines kindlichen Körpers sind häufig bei turnerisch-akrobatischen Sportarten größer, was hier das Problem verstärkt. Auch Einzelsportarten sind naturgemäß wesentlich problematischer als Teamsportarten, in denen junge Spieler:innen zwar auch Druck erleben, aber häufig sehr gut aufgefangen werden. Schließlich sind Sportarten weniger relevant, in denen auch noch mit Ende 20 oder Mitte 30 Spitzenleistungen möglich sind, wie in einigen Ausdauersportarten.

Spitzenleistung in höherem Alter ist aber manchmal auch eine Frage von Karriereplanung. Sehr frühe Expertise mit extremen Umfängen führt zwar oft zu schnell steigenden Leistungen, kann aber auch die Nachhaltigkeit von Leistung stark beeinträchtigen. Die Frage nach dem optimalen Karriereverlauf ist immer noch nicht geklärt und natürlich ist da jede Sportart unterschiedlich."

Im Turnen wurde das Mindestalter von 16 Jahren bereits eingeführt - gut so?

Kleinert: "Im Turnen war bereits früher als in anderen Sportarten Handlungsbedarf, da die Sportart besondere Bedingungen besitzt. Aus körperlicher Sicht sind bei vielen Übungen Kinder oder junge Jugendliche wegen ihrer Kraft-Last-Verhältnisse begünstigt. Weiterhin führt hier der sehr frühe Karrierebeginn im Kindesalter und die extremen Trainingsumfänge zu bereits hohem technischem Können bei vielen sehr jungen Leistungsturner:innen.

Gerade bei den Frauen tauchten daher immer jüngere Sportlerinnen in der Weltspitze auf. Die Verbände oder Vereinigungen mussten reagieren, um die Mädchen körperlich und psychisch zu schützen. Das Kunstturnen hat hierunter meines Erachtens nicht gelitten. Im Gegenteil, die Bedeutung der künstlerischen Komponenten und der Ausstrahlung sind in den letzten Jahren gestiegen, was die Attraktivität der Sportart teilweise auch steigert."


Die Fernsehbilder bei Walijewa legten nahe, dass es vor allem auch an ihrer menschlichen und psychologischen Betreuung fehlte. Was empfehlen Sie da für die Kinder, die auf dem Weg ins Rampenlicht sind? Sollte man ihnen schon früh Mentaltrainer oder Sportpsychologen an die Seite stellen?

Kleinert: "Grundsätzlich ist es bereits bei der Begleitung junger Leistungssportler:innen wichtig, die Entwicklung der Persönlichkeit zu stärken, Stressbewältigung zu verbessern, Kommunikationstechniken und soziale Skills zu vermitteln. In NRW fördert zum Beispiel die Sportstiftung NRW bereits seit 15 Jahren die Initiative "mentaltalent" der Deutschen Sporthochschule Köln, in der junge Top-Athlet:innen gerade darin unterstützt werden.

Ähnliche Programme gibt es auch in wenigen anderen Bundesländern und sind dort nicht mehr wegzudenken. Genauso wichtig ist es, dass das erwachsene Umfeld, von der Trainerin bis zum Vater, die Problematik sehen und sensibel für Zeichen von Überbelastung sind und auch wissen, wo Hilfe angeboten wird, nämlich am besten durch sportpsychologischen Expert:innen, die mit Vereinen oder Verbänden arbeiten. Und wir müssen aber auch sehen, welcher Druck durch Verbände oder Sportorganisationen auf den Trainer:innen lastet. Erfolgsdruck ist okay, aber an allen Stellen müssen Fähigkeiten vermittelt werden, damit umzugehen."

Bei den russischen Eiskunstläuferinnen war es zuletzt so, dass die sehr jungen Olympiasiegerinnen von 2014 und 2018 danach von der Bildfläche verschwunden sind, keine war jetzt in Peking dabei. Wie wichtig ist auch nach frühen und großen Erfolgen die psychologische Betreuung der Sportlerinnen und Sportler?

Kleinert: "Natürlich ist auch nach einem Großereignis psychosoziale Betreuung sehr sinnvoll. Niederlagen müssen verarbeitet und richtig eingeordnet werden. Aber auch Erfolge können eine Belastung durch erneuten Erfolgsdruck darstellen oder andersherum zu einem Motivationstief führen. Oft gibt es nach den Ereignissen eine Phase des Neu-Findens und der Umorientierung.

Hierbei kann auch die Aussprache mit vertrautem Personen, mit dem persönlichen nahen Umfeld oder auch mit dem oder der Sportpsycholog:in helfen. Aber die Tatsache, dass im russischen System junge Sieger von der Bildfläche verschwinden hat wohl eher Systemgründe. Es wird vermutlich mehr Wert darauf gelegt, junges Potenzial möglichst schnell und massiv auszuschöpfen als eine konstante, ganzheitliche Entwicklung zu fördern."

Wie bekommt man diese konstante Entwicklung denn am besten hin?

Kleinert: "Ich glaube, dass nur Athlet:innen lange Spitzensport betreiben können, die sich konstant und vor allem ganzheitlich weiterentwickeln. Natürlich ist eine extreme Expertise in bestimmten Techniken oder körperlichen Komponenten wichtig, aber genauso wichtig ist körperlicher und psychosozialer Ausgleich, genauso wichtig ist eine optimale Regenerationssteuerung, vielleicht sogar längere Auszeiten, in denen die Persönlichkeit sich entwickelt und Dinge zum Zug kommen, die in der Leistungssportkarriere oft zu kurz kommen.

Eigene Fähigkeiten und Bedürfnisse außerhalb des Leistungssports erkennen, Freundschaften oder Partnerschaft leben, seinen Weg finden. Der Weg vieler renommierter Top-Athlet:innen zeichnet sich gerade durch diese Phasen aus oder dadurch, dass diese Dinge nicht komplett wegfallen."

 
Wie kann man generell im Spitzensport bei Jugendlichen den Druck von außen möglichst gering und die Freude am Sport möglichst groß halten?

Kleinert: "Wichtig ist das System und der oder die Jugendliche selbst. Von Systemseite helfen Regeln und eine Politik, die Trainer:innen und hiermit auch die Sportler:innen entlasten. Das ist nicht nur ein Mindestalter, sondern je nach Sportart auch andere Formen von Jugendschutz, wie wir es im Mannschaftssport teilweise haben. Auch das Bereitstellen und das Bekanntmachen von Unterstützungsangeboten wie "mentaltalent" ist eine wichtige Komponente um im Fall der Fälle nachhaltige Hilfe anbieten zu können.

Auf Seite der Jugendlichen gilt es Stressresilienz aufzubauen, also Fähigkeiten und Ressourcen zu vermitteln, um mit Druck umgehen zu lernen und die eigenen Bedürfnisse zu vertreten. Vielleicht das wichtigste ist jedoch, dass Jugendliche, Trainer:innen und Eltern sich immer mal wieder fragen, ob die Freude am Sport im Vordergrund steht. Wenn Druck, Angst, Anspannung und Frustration trotz Unterstützung und Hilfe überwiegen, ist vermutlich der Moment gekommen, mit dem Spitzensport aufzuhören."

Das Interview führte Christian Hornung.