Die wegen einer positiven Dopingprobe gesperrte Gewichtheberin Vicky Schlittig.

Experiment aus ARD-Doku liefert Hinweise Deutscher Dopingfall vor spektakulärer Wende

Stand: 11.09.2022 20:43 Uhr

Eine wissenschaftliche Studie zu Anschlagsszenarien aus dem ARD-Film "Schuldig" könnte den Dopingfall der sächsischen Gewichtheberin Vicky Schlittig maßgeblich beeinflussen – und die Anti-Doping-Institutionen in Erklärungsnot bringen.

Von Hajo Seppelt, Peter Wozny und Jörg Winterfeldt

Eigentlich schien alles klar: In einer Dopingprobe am Rande der Junioren-Europameisterschaften wurde bei der deutschen Gewichtheberin Vicky Schlittig Oral-Turinabol nachgewiesen, ein verbotenes Steroid. Eine ostdeutsche Sportlerin mit einem DDR-Doping-Klassiker in der womöglich dopingverseuchtesten Sportart der Welt – alles passt zusammen.

Doch nun bahnt sich eine spektakuläre Wende an. Der zuständige Amtsrichter in Chemnitz, der den Fall unter dem Aktenzeichen 9 Ds 810 Js 40922/21 strafrechtlich nach dem Anti-Doping-Gesetz aburteilen soll, hat die Hauptverhandlung acht Tage vor dem Termin platzen lassen. Per Beweisbeschluss ordnete er am 1. September an, einen biochemischen Sachverständigen hinzuzuziehen.

Zu klären ist, ob auch andere Möglichkeiten in Betracht kommen, wie der Stoff in den Körper der Athletin gelangt sein kann, als eine absichtliche Einnahme. Die Staatsanwaltschaft darf die überraschende Wendung getrost als heftige Rüge werten. "Die Staatsanwaltschaft hat keine Ermittlungstätigkeit angestellt, irgendeinen Beweis zu erbringen", sagt Schlittigs Berliner Anwalt Steffen Lask, "die Staatsanwaltschaft hat allein einen positiven Dopingbefund genommen."

Schuldig - Wie Sportler ungewollt zu Dopern werden können

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Starke Hinweise auf Übertragung durch die Haut

In den nächsten Tagen droht der Fall für die WADA-Ermittler noch komplizierter, der Nachweis der Schuld noch heikler zu werden. Lask hat einen niederländischen Anti-Doping-Experten angeheuert, der gerade an einer zweiten Expertise arbeitet. Darin berücksichtigt Douwe de Boer aus Maastricht, ein erfahrener Anti-Doping-Fachmann, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine Kölner Forschergruppe Mitte August unter anderem zur Nachweisbarkeit von Oral-Turinabol im Fachjournal "Drug Testing and Analysis" veröffentlichte.

Brief der Internationationalen Test-Agentur an Vicky Schillig.

Brief der Internationationalen-Test-Agentur an Vicky Schillig.

Die Studie ist auf der Grundlage eines Experiments entstanden, das im Mittelpunkt der ARD-Doku "Geheimsache Doping - Schuldig" im vergangenen Jahr stand. Die mögliche Parallele zum Fall Schlittig: In dem Film wurde mit der Gabe von Dehydrochloromethyltestosteron, so der chemische Name von Oral-Turinabol, über die Haut experimentiert – jener Substanz, die normalerweise per Tablette verabreicht wird. Der Verdacht: Könnte Vicky Schlittig Betroffene einer Übertragung von Dopingsubstanzen über Berührungen der Haut sein? Absichtlich oder unabsichtlich?

"In der Studie wird erklärt, dass eine Person durch eine Hautkontamination positiv sein kann. Und im Fall von Dehydrochlormethyltestosteron gibt es eine sehr spezifische Signatur", sagt Douwe de Boer: "Im Fall von Vicki Schlittig ist genau diese Signatur in ihrem Urin vorhanden, was stark darauf hindeutet, dass ihr die Substanz über die Haut übertragen wurde."

Besonders merkwürdig ist in diesem Zusammenhang, dass Oral-Turinabol nur noch auf dem Schwarzmarkt erhältlich ist - als Pulver, Tablette oder zu spritzende Flüssigkeit, nicht aber als Salbe. "Wir müssen annehmen", sagt de Boer daher, "dass sie unschuldig ist."

10.000 Euro Ausgaben im Kampf um Unschuld

Auffällig ist: Weder die Ermittler im sportrechtlichen Bereich, also die Internationale Test-Agentur (ITA), noch die Staatsanwaltschaft in Chemnitz, die die Anklage am Amtsgericht erhoben hat, gehen den Erkenntnissen nach. Besonders bemerkenswert ist, dass die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) noch nicht einmal weiß, dass die wissenschaftliche Studie längst veröffentlicht ist. Auf ARD-Anfrage fragte sie zurück, wann denn die Studie erscheine.

Zu den Ungereimtheiten des wissenschaftlichen Befunds bei Schlittig zählt nicht nur ein seltsames Muster der Abbauprodukte von Oral-Turinabol in der Urin-Analyse, sondern auch die sehr geringe Menge des im Urin gefundenen Mittels, die einen tatsächlichen Dopingeffekt ausschließen würde. Zudem wurde Schlittig häufig und regelmäßig getestet - binnen fünf Jahren 26 Mal -, und alle Tests waren negativ, so auch kurz vor und nach dem positiven Test.

Training im Hühnerstall

Doch Oral-Turinabol, das den Muskelaufbau beschleunigt, würde für einen Doper nur Sinn ergeben, wenn er es über einen längeren Zeitraum einnimmt. Schlittigs Anwalt Lask sagt: "Diese ungewöhnlichen Analyseergebnisse werden durch die ITA nicht berücksichtigt, im Gegenteil, man bietet uns eine Vierjahressperre an. Das halte ich für unfair."

Vicky Schlittigs Leben ist durch die Dopingprobe nachhaltig aus dem Lot geraten. Ihr Vertrag bei der Bundeswehr wurde beendet. Die Verfahren haben schon jetzt etwa 10.000 Euro verschlungen. Sie musste wieder zu ihren Eltern ins sächsische Gröditz zurückziehen und trainiert jetzt allein in einem umgebauten Hühnerstall. Ob irgendeine Institution, die über ihre Schuld zu befinden hat, alle Hinweise, auch entlastende, würdigt, steht zudem in den Sternen. "Es ist eine sehr psychische Belastung. Ich wünsche es keinem, das durchzumachen", sagt Schlittig, "es belastet einen sehr."