Tabellenführer in der Serie A "Wie in goldenen Maradona-Zeiten" – SSC Neapel im Höhenflug

Stand: 13.10.2021 12:26 Uhr

Nicht Juventus Turin oder Inter Mailand führen die Tabelle in der Serie A an - sondern die SSC Neapel. Und dies überaus souverän. Die Süditaliener haben noch keinen Punkt abgegeben. Eine Suche nach Erklärungen in der Stadt am Vesuv.

Von Jörg Seisselberg (Neapel)

Erste Straße rechts, vierte Straße links und dann immer geradeaus. Im Spanischen Viertel in Neapel, dem volkstümlichen Stadtteil direkt neben dem Zentrum, weiß jede und jeder, wo es zur inoffiziellen Diego-Maradona-Gedenkstätte geht. Die Wegbeschreibung gibt es für den fragenden Touristen im Vorübergehen, so selbstverständlich, wie in Rom der Weg zum Kolosseum gewiesen wird.

Neapel lebt Fußball und verehrt immer noch den Größten, der jemals hier gespielt. Aktuell herrscht gute Laune auf dem Platz in den Quartieri Spagnoli, wo rund um den von Fans gebauten Maradona-Schrein Wandmalereien und hunderte D10-Devotionalien zu sehen sind. "Wir sind wieder stark", strahlt Ciccio, als er drei Maradona-Magnetbilder für fünf Euro verkauft.

Sieben Spiele, sieben Siege - und ein neues Idol

Der Grund für die Freude: Die SSC Neapel grüßt in der Serie A von der Spitze der Tabelle. Alle sieben Ligaspiele seit Saisonbeginn haben die Süditaliener gewonnen, das gab es nicht einmal zu Maradonas Zeiten. Die beste Tordifferenz, die wenigsten Gegentore, unter anderem Juventus Turin und die aufstrebende AC Florenz geschlagen. In der Liga ist Neapel im Moment das Maß aller Dinge. Und 30 Jahre nach dem unrühmlichen Abschied Maradonas haben die SSC-Fans ein neues Idol. Victor Osimhen.

Fans des VfL Wolfsburg dürften sich an dieser Stelle vor Lachen biegen. Osimhen hat ab 2017 für eineinhalb Jahre in der Autostadt gespielt. In Erinnerung geblieben ist er als "Mr. Chancentod", als Stürmer mit großen technischen Problemen, als Transfer-Flop. Die Wolfsburger waren froh, den früheren Torschützenkönig der U17-Weltmeisterschaft zum RSC Charleroi nach Belgien abschieben zu können, nachdem er in 14 Spielen für den VfL nicht einmal getroffen hat. Jetzt ist Osimhen der neue König in der Maradona-Stadt.

Osimhem - von der Enttäuschung zum Star

Sechs Tore hat Osimhen in Serie A und Europa League in dieser Saison bereits erzielt, obwohl er in der Liga wegen einer frühen Roten Karte in der Auftaktbegegnung nur fünf Spiele voll mitmachen konnte. In diesen Partien erlebten die Napoli-Fans einen Osimhen, wie sie ihn noch nicht gesehen haben. In der vergangenen Saison wechselten Licht und Schatten beim Nigerianer, jetzt fasziniert er die Fans mit Wucht, Schnelligkeit, Zweikampfstärke und Zug zum Tor.

Osimhen wirkt nicht mehr so unkoordiniert wie früher, vergisst im Dribbling kaum noch den Ball. Stattdessen schimpft im Spiel gegen Cagliari Verteidigerikone Diego Godin wütend, weil er Osimhen einfach nicht in den Griff bekommt.

In der Serie A ist derzeit kein Stürmer besser in Form. Langsam wird deutlich, warum Neapel vor einem Jahr 70 Millionen Ablöse an Lille bezahlt hat und Osimhen vor vier Jahren bei seiner Verpflichtung in Wolfsburg als eines der größten Talente des Weltfußballs galt.

Trainer Spalletti erkennt das Potential

Osimhens Qualitätssprung hängt auch mit Neapels im Sommer neu verpflichtetem Trainer zusammen. Luciano Spalletti hat das Potential des 1,86 Meter großen Stürmers früh erkannt und ihn in der Saisonvorbereitung mit Spezialtrainings gefordert. Er hat dessen Laufwege und Zweikampfverhalten verbessert und mit dessen Sturmpartnern Insigne und Lozano das Zusammenspiel eingeübt. Die Offensive Neapels spielt nun stärker für Osimhen als in der Vergangenheit, und der junge Angreifer zahlt mit Leistung und Toren zurück.

Die SSC Neapel hat in der vergangenen Saison unter Gennaro Gattuso die Champions-League-Qualifikation knapp verpasst. Mit Spalletti wurde ein Trainer geholt, der zwar überschaubar viele Titel gewonnen hat (unter anderem zweimal Meister mit Zenit St. Petersburg, zweimal Pokalsieger mit der AS Rom). Aber der scharfzüngige Mann mit ausgeprägtem toskanischen Dialekt steht im Ruf, aus Mannschaften das Optimale herauszuholen.

Neapel unter neuem Coach sehr variabel

Dass Spalletti von den meisten nicht zur absoluten Topriege der Trainer gezählt wird, mag auch daran liegen, dass er nicht für einen klar profilierten Stil steht, wie beispielsweise Pep Guardiola, Jürgen Klopp oder José Mourinho. Spalletti ist kein Dogmatiker, er ist Pragmatiker - und hat damit Spiel des zweifachen Meisters variabler und erfolgreicher gemacht.

Wie alle Spalletti-Teams hat auch die SSC Neapel jetzt die Fähigkeit, verschiedene taktische Modelle und Grundordnungen umzusetzen, je nach Gegner und Entwicklung des Spiels. Mal im 4-3-3- , mal im 4-2-3-1-System, mal hoch pressend, mal den Gegner kommen lassend. Teamspirit schaffen ist eine weitere Fähigkeit, die Spalletti nachgesagt wird. Die Begeisterung, die Neapel in seinen Spielen derzeit auf den Rasen bringt, zeigt, dass auch das funktioniert.

Aurelio de Laurentiis: ein schillernder Präsident

Zufrieden beäugt wird das Ganze von Aurelio de Laurentiis. Der 72 Jahre alte Filmpräsident ist in den Topvereinen der Serie A der letzte Repräsentant einer ansonsten aussterbenden Spezies einst typisch italienischer Fußballpräsidenten: Ein patriarchischer Multimillionär, der mit großer Geste seinen Lieblingsklub leitet, häufig schillernd, manchmal erratisch-cholerisch.

Neue Sparsamkeit unter dem Vesuv

Nach großen Investitionen in den vergangenen Jahren war de Laurentiis in diesem Sommer sparsamer. André-Frank Anguissa wurde für Tiemoué Bakayoko verpflichtet, das war’s. Ansonsten spielt exakt das Team aus dem vergangenen Jahr. Was die Verdienste des neuen Trainers Spalletti noch heller leuchten lässt.

Ob es am Ende zu ganz großen Erfolgen für Neapel reichen kann? Napolis ehemaliger Torwart Giuseppe Taglialatela ist ähnlich enthusiastisch wie die Fans im Spanischen Viertel. Das jetzige Team, sagt Taglialatela, erinnere ihn "an die goldenen Zeiten mit Diego Maradona".