Transgender-Debatte im Sport: Sportler mit Regenbogenflagge

Vermeintliche Fairness vs. Inklusion Transgender im Spitzensport - Grundsatzfrage mit Konfliktpotenzial

Stand: 20.08.2022 14:57 Uhr

Es geht um menschliche Schicksale, komplexe Biologie - und um eine Grundsatzfrage: Was wiegt schwerer? Vermeintliche Fairness im Wettbewerb oder das Bemühen um Inklusion? Oder geht sogar beides zusammen? Die Diskussion um den Umgang mit Transmenschen und Intersexuellen im Weltsport wird auch am Rande der European Championships geführt, obwohl nicht bekannt ist, ob betroffene Athletinnen in München am Start sind.

Von Hajo Seppelt und Peter Wozny

Denn auch wenn die Streitfrage bislang in der absoluten Weltspitze selten akut wird: Der Sachverhalt, soviel scheint klar, wird den Weltsport noch über Jahre beschäftigen. Und er birgt gewaltiges Konfliktpotenzial.

USA: Gouverneur erkennt College-Titel ab

Die Schwimmerin Lia Thomas bekam dies zu spüren. Ihr Sieg bei den US-Collegemeisterschaften über 500 Yards wuchs sich zu einem gewaltigen Politikum aus. Unter anderem schaltete sich Floridas Gouverneur Ron DeSantis ein und erkannte ihr den Titel symbolisch ab. Der Grund: Lia Thomas war drei Jahre zuvor noch als Mann angetreten.

In den sozialen Medien machte sie einen Spießrutenlauf durch. Nach ihrem jetzigen Sieg stellten sich ihre geschlagenen Konkurrentinnen ohne sie zum Siegerfoto auf. Für Lia Thomas, die nach Beginn ihrer Hormontherapie 2019 immer wieder angefeindet wurde, waren diese Attacken schwer zu ertragen.

Kein einheitliches Regelwerk

Doch Transmenschen und Intersexuelle haben im Hochleistungssport nicht nur mit Anfeindungen, sondern auch mit nüchternen hormonellen Vorgaben zu kämpfen. Und die gleichen quer durch die Sportarten einem Flickenteppich. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) wollte 2021 kein einheitliches Regelwerk mehr vorgeben, sondern übertrug die Entscheidung den Weltverbänden.

So durfte die neuseeländische Gewichtheberin Laurel Hubbard bei Olympia in Tokio starten, weil ihr Testosteronlevel über zwölf Monate unter zehn Nanomol pro Liter Blut lag. Der Radsport-Weltverband UCI bremste dagegen im Juni die Engländerin Emily Bridges aus. Die Bahnradfahrerin musste nachweisen, dass ihr Testosteronwert seit mindestens 24 Monaten unter 2,5 Nanomol pro Liter Blut lag. Vor der Regeländerung lagen die Grenzwerte noch deutlich höher: zwölf Monate unter fünf Nanomol pro Liter.

Schwimmerin vor Karriereende

2022 änderte auch der Weltschwimmverband FINA seine Regeln. Transgender-Athletinnen dürfen nur bei den Frauen starten, wenn sie ihre Geschlechtsangleichung vor dem zwölften Lebensjahr abgeschlossen haben. Für Lia Thomas bedeutet das wohl das Karriereende. FINA-Präsident Husain Al-Musallam feierte die Neuregelung: "Wir müssen den fairen Wettkampf schützen. Unsere Regeln basieren auf der Wissenschaft."

Auch eine Frage der Ethik

Aber sind sie auch ethisch vertretbar? Geschlechtsangleichungen vor dem zwölften Lebensjahr verhindern, dass die Person in der männlichen Pubertät entsprechend Muskelmasse aufbaut. Doch Eingriffe dieser Art sind bei Kindern und Jugendlichen hoch umstritten, in den meisten Ländern sogar verboten.

Rückendeckung für Weltschwimmverband von Athletin

Trotzdem bekommt die FINA viel Zuspruch für die neue Regel, etwa von der US-Schwimmerin Sharon Davies: "Es gibt zwölf anerkannte Studien zu dem Thema, und nicht eine zeigt, dass man die körperlichen Vorteile der männlichen Pubertät rückgängig machen kann. Solange das unmöglich ist, kann man keine Menschen, die biologische Männer sind, bei den Frauen starten lassen und es als fair bezeichnen."

In den 80er-Jahren gehörte Davies zu den weltbesten Schwimmerinnen. An ihren häufig mit männlichen Hormonen gedopten Konkurrentinnen aus der DDR kam sie damals aber nicht vorbei. "Ich möchte nicht, dass es einer weiteren Generation ähnlich ergeht", sagt sie.

Haben Transgender-Sportlerinnen wirklich Vorteile?

Vergleiche mit gedopten Frauen sind jedoch umstritten. So sagt etwa die Menschenrechtsanwältin Payoshni Mitra: "Es gibt keinen endgültigen Beweis, dass nicht gedopte Frauen mit natürlich erhöhten Hormonwerten einen wirklichen Vorteil haben. Die Wissenschaft ist da noch sehr dünn." Mitra kämpft für die Rechte von Transgender-Sportlerinnen und intersexuellen Athletinnen, unter anderem für Spitzenläuferin Caster Semenya, 800-Meter-Olympiasiegerin 2012 und 2016.

Die Südafrikanerin hat als intersexuelle Frau von Natur aus erhöhte Testosteronwerte. Der Leichtathletik-Weltverband bremste sie mittlerweile über sein Regelwerk aus. Für Läuferinnen gilt auf Strecken zwischen 400 Metern und einer Meile seit 2019 eine Testosteron-Obergrenze von fünf Nanomol pro Liter.

Forderung nach mehr Forschung

Roger Pielke, Leiter des Sports Governance Center an der Universität Colorado, glaubt, dass die bisherigen Forschungsergebnisse nicht für belastbare Regelwerke ausreichen. "Um zu verstehen, inwiefern Transgender-Athletinnen einen unfairen Vorteil haben, müssen wir ihre Leistungsveränderungen Sportart für Sportart erfassen, analysieren und vergleichen. Das ist bisher nicht geschehen", sagt Pielke.

Vermeintliche Fairness vs. Inklusion

Trotzdem beriefen sich alle Verbände, die neue Regelungen verabschiedeten, auf die Wissenschaft. Nach dem Schwimmen steht nun eine weitere olympische Kernsportart kurz davor, auf Kosten von Transgender-Athletinnen nachzujustieren. Was Leichtathletik-Weltverbandspräsident Sebastian Coe zuletzt der BBC sagte, klang wie die Vorbereitung einer Regelverschärfung: "Wenn wir zwischen Inklusion und Fairness wählen müssen, dann werden wir uns immer für Fairness entscheiden."