European Championships Stolz und Tränen - wie der Krieg Ukraines Athleten beeinflusst

Stand: 20.08.2022 12:05 Uhr

Ukrainische Sportlerinnen und Sportler nehmen in Kriegszeiten an den European Championships 2022 in München teil. Gespräche und Eindrücke, wie sie damit klarkommen und wo ihre Gedanken während der Multi-EM sind.

Von Johannes Kirchmeier, München

Der Krieg kommt übers Handy. Er findet seinen Weg nach München zu den European Championships 2022. Per Push-Nachricht, via WhatsApp oder bei Instagram. Und er frisst sich in die Gedanken der besten Sportlerinnen und Sportler der Ukraine hinein.

"Du kannst nicht mehr dieselbe wie davor sein"

"Sport war mein ganzes Leben, Stabhochsprung meine Liebe", sagt die Leichtathletin Jana Hladijtschuk, 29, im Gespräch mit der Sportschau: "Aber wenn du deine Sicherheit verlierst, wenn du dir Sorgen um deine Familie machst, dann kannst du nicht mehr dieselbe wie davor sein."

Hladijtschuk ist eine von 160 Sportlerinnen und Sportlern bei der Multi-EM in München, die für die Ukraine teilnehmen. Im März, kurz nachdem Russland den Angriffskrieg auf Hladijtschuks Heimatland begann, wurde sie noch Vierte bei der Hallen-WM in Belgrad. Nun in München scheiterte sie bereits in der Qualifikation.

Starikowa bekommt "Bombenalarm" aufs Handy

Früher wäre das ein Grund gewesen, um zu heulen, erzählt sie. Am Montag (15.08.2022) saß sie dagegen "emotionslos neben anderen ausgeschiedenen Stabhochspringerinnen", sah ihnen beim Weinen zu und dachte sich: "Ich werde nie mehr weinen, weil ich mich nicht für einen Wettbewerb qualifiziert habe."

So wie ihr geht es vielen ihrer Landsfrauen und -männern bei den European Championships in München. In fast allen Sportarten sind Ukrainer vertreten. Sie feiern großartige Erfolge wie die Bahnradlerin Jolena Starikowa, die sich Silber im Zeitfahren und Bronze im Keirin sicherte.

Der Krieg fuhr aber auch bei ihr all die Tage mit auf der eigens gezimmerten Bahn an der Messe München: "Immer wenn es daheim einen Bombenalarm gibt, bekomme ich eine Nachricht auf meinem Smartphone. Und jedes Mal fühle ich mich ängstlich dabei", sagt sie: "Aber ich bin stolz, dass ich hier mein Land vertreten darf und unsere Flagge gehisst werden kann."

Sportler aus Russland und Belarus ausgeschlossen

Flagge zeigen in diesen schweren Zeiten - das ist ein Grund, wieso Starikowa und all die anderen da sind. "Wir versuchen unsere Soldaten zu motivieren und unsere Soldaten motivieren uns", sagt Hladijtschuk zudem: "Aber wenn du die vielen Toten siehst, die ganzen Ruinen, dann glaubst du nicht mehr daran, dass du mit dem Sport helfen kannst."

Sportler aus dem Angriffsland Russland dürfen wie belarusische Athleten in München nicht mitmachen. Das Internationale Olympische Komitee hatte ihren Ausschluss empfohlen und die Münchner Veranstalter hatten sich schnell angeschlossen.

"Ich möchte keine Mörder auf der Bahn sehen"

Die Hochspringerin Jaroslawa Mahutschich, die mit dem Auto geflüchtet ist und inzwischen in Deutschland lebt, hatte sich schon während der WM in Eugene/USA im Juli vehement gegen den Start russischer Athleten ausgesprochen ("Ich möchte keine Mörder auf der Bahn sehen"). Im Sportschau-Interview sagt sie vor ihrem EM-Start am Sonntag, was sie über eine Rückkehr der Sportler denkt: "Ich kann es mir nicht vorstellen in diesem Moment. Viele Menschen haben ihr Leben durch russische Soldaten verloren. Die Sportler leben in diesem Land und haben nichts daran geändert. Ich denke, es ist erst möglich, wenn der Krieg beendet ist und die Ukraine ihre Städte wiederaufgebaut hat."

Ich kann es mir nicht vorstellen in diesem Moment. Viele Menschen haben ihr Leben durch russische Soldaten verloren. Die Sportler leben in diesem Land und haben nichts daran geändert. Ich denke, es ist erst möglich, wenn der Krieg beendet ist und die Ukraine ihre Städte wiederaufgebaut hat.
Jaroslawa Mahutschich im Sportschau-Interview

Hladijtschuk läuft am Donnerstagabend mit ihrem blauen Trainingsanzug samt gelber "UKRAINE"-Aufschrift auf dem Rücken durch den Münchner Olympiapark, hat sich zudem ihren Lidstrich in den Landesfarben Blau und Gelb geschminkt. Sie ist stolz auf ihr Land, immer wieder werde sie auch von den Menschen hier auf die Situation dort angesprochen.

Applaus für Ukraines Sportler in München groß

Der Applaus, so erscheint es zumindest, ist bei den Ukrainern besonders groß. Ähnlich war der Eindruck von Witalij Woronzow, der im Triathlon 39. wurde und trotzdem zufrieden schien: "Ich höre immer wieder, wie mich Ukrainer oder andere Europäer anfeuern. Ich bin wirklich glücklich, hier antreten zu können."

Das Para-Mixed-Team, das die erste Goldmedaille für das Land errang, lauschte der Nationalhymne mit feuchten Augen. Die Gedanken waren vermutlich auch da ganz woanders. So wie beim Geher Marjan Sakalnyzkyj nach dessen Einsatz: "Natürlich denke ich an die Ukraine, weil meine ganze Familie dort ist", sagte er: "Niemand weiß, ob eine Bombe ins Haus fliegt. Heute, morgen. Oder nie." Sein Bruder, sein sportliches Vorbild, kämpft in diesen Tagen an der Front.

Hladijtschuk flüchtete mit Vater und Bruder

Hladijtschuk ist am Tag nach dem Kriegsbeginn mit ihrer Mutter nach Polen geflüchtet, seither war sie nicht mehr im eigenen Land, hat ihren Vater und Bruder nicht mehr gesehen. Auch das ist typisch für die ukrainischen Sportler in diesen Tagen. Sie hält via Handy Kontakt zu den beiden in Kiew. "Mein Vater will die Heimat nicht verlassen, weil er dort in seinem Haus ist und es nicht verlieren will", sagt sie, ihre Augen werden feucht, ihre Stimme zittert.

Nach München war es mit der Anreise aus Bydgoszcz aber trotzdem nicht so leicht: Weil es keinen Flieger für sie gab und die Stäbe nicht in einen Zug passten, wurde sie am Ende vom Verein "Athletes for Ukraine" abgeholt, den der Biathlon-Staffel-Olympiasieger von 1992, Jens Steinigen, gemeinsam mit weiteren (Ex-)Sportlern im März gegründet hat und der sich für Ukraines Sportler einsetzt.

Ukrainische Nachwuchsathletinnen im Olympiastadion

Der Verein hatte zuvor bereits einen anderen Transport in Zusammenarbeit mit Hladijtschuk organisiert: 35 Nachwuchsathletinnen zwischen 13 und 22 Jahren aus dem besonders umkämpften Osten der Ukraine kamen im April nach Wolfratshausen in den Süden Münchens. Dort empfing sie der Trainer Norman Feiler, der Ort stellte ihnen und ihren Familien Wohnungen zur Verfügung. Trainieren können sie im örtlichen Stadion.

"Als damals einmal Jets über uns flogen, fingen einige an zu weinen", erzählt der 52-jährige Feiler: "Weil die letzten Jets, die sie hörten, Bomben abwarfen. Wir mussten ihnen erst einmal erklären, dass das hier nicht so ist."

Am Donnerstag war er gemeinsam mit Hladijtschuk und der Hälfte der Athletinnen im Olympiastadion, aus ukrainischer Sicht konnten sie Bronze für Hochspringer Andrij Prozenko bejubeln. Am Sonntag wird Feiler mit der anderen Hälfte im Stadion sein.

Jüngst erreichte der Krieg Hladijtschuk wieder auf dem Handy

Hladijtschuk versucht, sich zwei, drei Stunden pro Tag durch ihren Sport von all den schlimmen Nachrichten aus der Heimat abzulenken, "die Dinge zu trennen: den Sport und den Krieg". Anfangs gelang das ganz gut, die Sommersaison lief prächtig an, berichtet sie, aber je länger der Krieg dauere, desto schwieriger werde es. "Ich bin müde von allem", sagt sie, es sei auch eine "Leere" vor den Wettbewerben spürbar. Sie arbeitet daher jetzt auch mit einem Sportpsychologen zusammen.

Erst jüngst erreichte sie der der Krieg in der Heimat ja wieder auf dem Handy. Die Mutter einer Nationalmannschaftskollegin, der Hochspringerin Kateryna Tabaschnyk, war bei einem Bombenangriff in Charkiw gestorben. Auf ihrem Instagram-Kanal teilte Hladijtschuk Bilder, die das zerstörte Haus zeigen sollen. Neben einer Medaille lag auf diesen Aufnahmen auch eine Startnummer Tabaschnyks von einem Meeting in Paris unter den Trümmern. "Das ganze Team trauert", sagt die Stabhochspringerin.

Bis zum Ende der European Championships in München

Die natürlich überlegt, wann sie ihre gesamte Familie wiedersehen könnte. Pläne dafür schmiedet sie jedoch nicht, die Kriegslage bleibt zu unsicher. So will sie erst einmal bis zum Ende der European Championships in München bleiben und dann an einem weiteren Leichtathletik-Meeting in Deutschland teilnehmen.

Meist verlängert sie die Zeit bei den Sportfesten, um ein paar weitere Tage ein Dach über dem Kopf zu haben. "Da sieht man die Motivation gerade", sagt sie: "Du bist nicht motiviert, Rekorde zu brechen. Du brauchst einfach nur einen Platz zum Leben. Leicht ist das nicht."