Das israelische Marathon-Team

50 Jahre nach dem Olympia-Attentat Israel erinnert sich - und blickt nach vorn

Stand: 21.08.2022 06:55 Uhr

Bei den European Championships in München ist den israelischen Teilnehmern die Tragödie von 1972 allgegenwärtig. Dennoch wünschen sie sich wieder Olympische Spiele in Deutschland.

Von Bettina Lenner und Markus Othmer, München

Für Dreispringerin Hanna Minenko und ihren Trainer Rogel Nahum war klar, wohin sie ihr Weg nach dem Gewinn der Bronzemedaille bei der Leichtathletik-EM in München führen würde. "Wir haben beschlossen, nicht den Shuttle zum Hotel zu nehmen, sondern zu Fuß durch den Olympiapark zu gehen. Wir sind bewusst hierhergekommen, haben einige Fotos gemacht und einige der Texte gelesen. Das war ein sehr emotionaler Moment", erzählt der Chefcoach der israelischen Leichtathleten der Sportschau und zeigt auf die Gedenkstätte in seinem Rücken.

Der 2017 fertiggestellte Pavillon in der Nähe des Haupt-Tatortes im damaligen Olympiadorf erinnert an die elf Sportler und den Polizisten, die bei dem Anschlag palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft bei den Sommerspielen am 5. September 1972 getötet wurden.

Keine Last, sondern ganz besondere Motivation

Die Tragödie ist in Israel auch nach einem halben Jahrhundert allgegenwärtig. "Es ist ein Teil von uns und wird uns unser ganzes Leben lang begleiten", sagt Jack Cohen, Leiter der internationalen Abteilung des Israelischen Leichtathletik-Verbands: "Jeder in Israel weiß, was hier vor 50 Jahren geschah."

Jack Cohen (l.) und Rogel Nahum am Erinnerungsort Olympia-Attentat München 1972

Jack Cohen (l.) und Rogel Nahum am Erinnerungsort im Olympiapark.

Auch die Sportler. "Es ist aber keine Last auf ihren Schultern, sondern eine ganz besondere Motivation", so Nahum: "Es verleiht ihnen eine innere Kraft. Sie wollen es nicht von sich fernhalten, sondern verarbeiten und nutzen es für sich."

So wie Ofir Netzer, der an der Isar die erhoffte Qualifikation für die Turn-WM gelang. "Es bedeutet mir sehr viel, 50 Jahre nach diesem furchtbaren Ereignis hier zu starten. Nicht nur, um meine sportlichen Ziele zu erreichen, sondern auch um mein Land zu vertreten." Es mache sie sehr traurig, an die Athleten und ihre Familien zu denken. "Es war schrecklich für sie. Aber ich trete auch für sie an."

"Hatikva" erklingt nach Marathon-Gold

Leichtathletin Minenko hatte sich fest vorgenommen, gerade in München eine Medaille zu gewinnen; auch um zu demonstrieren, "wir sind da". Wohl einer der emotionalsten Momente für die israelische Delegation: als die Marathon-Männer Team-Gold einsammelten und auf dem vollbesetzten Odeonsplatz die israelische Hymne "Hatikva" (Die Hoffnung) erklang.

"Eine Goldmedaille ist immer besonders. Aber 50 Jahre nach den Ereignissen von 1972 noch einmal mehr. Es ist sehr speziell, diese Medaille mit nach Hause zu bringen, zu den Menschen in Israel", so Cohen.

Tolle Atmosphäre bei den European Championships

Trotz der traurigen Erinnerungen schwärmen die israelischen Sportler und Funktionäre von der Stimmung bei den European Championships. "In den 35 Jahren meiner Leichtathletik-Karriere habe ich nie so eine Atmosphäre erlebt wie hier", sagt Nahum.

Der 55-Jährige war einst selbst ein aktiver Dreispringer auf Weltniveau mit persönlicher Bestleistung von 17,20 Metern und startete bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona sowie vier Jahre später in Atlanta. "Die Zuschauer gehen absolut mit, sind sehr fachkundig und fair. Natürlich unterstützen sie vor allem die deutschen Athleten, aber auch alle anderen. Es sind wirklich tolle Meisterschaften."

Das ist wie Mini-Olympia, weil auch so viele andere Sportarten und Sportler dabei sind. Das ist großartig.
Turnerin Ofir Netzer über die Multi-EM

Wunsch nach Olympia in Deutschland

Auch deshalb wünschen sich Nahum und Cohen trotz der Tragödie vor 50 Jahren wieder Olympische Spiele in Deutschland - vielleicht sogar 2036, 100 Jahre nach den Nazi-Spielen von Berlin.

"Ich finde, das ist eine hervorragende Idee. Das hat auch nichts mit der Vergangenheit zu tun, wir müssen nach vorn schauen. Es wäre großartig für Deutschland und für die Entwicklung des Sports", meint Cohen. Nahum stimmt zu - und fängt schon an zu rechnen. "Die Leute hier lieben Sport. Ich hoffe, dass ich dann noch fit genug bin, nach Deutschland zu kommen und das mitzuerleben."