Niklas Kaul beim 1500m-Lauf im Rahmen des Zehnakmpfes bei den European Championships 2022

Frank Busemanns EM-Kolumne Magische Momente im Olympiastadion - das ist Kaul

Stand: 17.08.2022 08:41 Uhr

Niklas Kaul wird der öffentlichen und der eigenen Erwartungshaltung in einem denkwürdigen Zehnkampf gerecht. Das begeistert den Sportschau-Experten Frank Busemann.

Von Frank Busemann

Bämm, Zack, Peng. Ein Erlebnis wie Donnerhall. Es ist schwer, das Geschehene in Worte zu fassen. Jedwedes Wort würde dem nicht gerecht werden. Wir würden uns an Superlativen verschlucken und ob der kitschigen Übertreibung mit den Augen kullern. Machen wir es kurz und geben dem Gesamtkunstwerk des gestrigen Tages einen mathematischen Ausdruck: sportliche Leistung potenziert mit Glückseligkeit im Produkt mit Begeisterung und Einigkeit. Mal unendlich. Fertig.

Freude und Leid in Reinkultur

Einer der Protagonisten dieses herrlichen Tages waren die Doppelschichter. Zwei Tage. Zehn Disziplinen. Freude und Leid in Reinkultur. Hoffen und Bangen. Wir waren Europameister. Arthur Abele machte hier seinen letzten Zehnkampf. Mit 36 Jahren. Es war angerichtet. Das Publikum lag ihm zu Füßen und dann spuckt die Startelektrik einen Fehlstart aus. Disqualifikation. Verwunderung. Entsetzen. Panik. Trauer. Protest. Hoffen. Bangen. Erlösung. Freude. Erleichterung. Lauf nachholen. Alles in knapp einer Stunde. Ein Gefühlschaos der Extraklasse. Er kam ins Ziel. Was für ein Abschied.

Sport und Erfolg sind viel mehr als ein bisschen Laufen, Springen, Werfen

Der andere war Weltmeister. Der jüngste aller Zeiten. Danach musste Niklas Kaul feststellen, dass Sport und Erfolg viel mehr als ein bisschen Laufen, Springen, Werfen ist. Die Psyche wird so vielschichtig attackiert, dass es immer nur theoretische Konstrukte zu sein scheinen, mit denen man sich da auseinandersetzt. Und dann setzt sich in der Praxis was in Bewegung, was man nicht greifen kann. Verletzungen. Zweifel. Trauer. Hoffen. Bangen. Ziele. Gut, dass Kaul gefestigt und klar im Kopf ist. Weltmeister kann man halt mal werden. Eine außergewöhnliche Leistung. Danach wird’s aber schwierig. Wie geht es weiter? Was kommt danach?

Eigener Anspruch wächst mit den Aufgaben

Doha vor drei Jahren war die Gesellenprüfung, irgendwann will ein jeder sein Meisterstück ablegen. Der Fokus der Öffentlichkeit ist ein anderer. Der eigene Anspruch wächst mit den Aufgaben. Und dann versucht der erfolgreiche Athlet an das anzuknüpfen, was ihn so einzigartig macht: außergewöhnliche Leistung. Immer wieder. Immer anders. Aber wie? Kaul steht nach Tag 1 auf der ersten Seite der Ergebnisliste. Da steht er nie. Sonst immer viel weiter hinten. Der Athlet des zweiten Tages hat Tuchfühlung nach oben. Potzblitz, das wird ein lauer Durchmarsch. Könnte man meinen. Also wird er gewinnen. Sagen irgendwelche Experten. Natürlich wird er das Feld aufrollen. Sagen die Fans. Hat er beim WM-Titel auch gemacht. Alles ganz easy.

Aufholjagd gerät ins Stocken

Wenn wir Medaillen auf dem Reißbrett vergäben, dann müssten wir nicht ins Stadion gehen. Denn plötzlich fliegt der verdammte Diskus nicht. Die Aufholjagd gerät ins Stocken. So einen Käse hat keiner auf dem Schirm. Das darf in der Welt des Leistungssports nicht passieren. Es passiert aber. Der WM-Dritte im Weitsprung, Simon Ehammer kommt nicht in Sichtweite. Kaul sieht ihn aus weiter Ferne. Von hinten. Und es wird mehr. Beim Stabhochsprung haut er weiter ab. Beim bloßen Blick aufs Tableau könnte man meinen, das Kampfgericht habe eine Disziplin bei Kaul vergessen. 520 Punkte sind uneinholbar. Auch für einen Kaul.

Es passiert Magisches

Doch dann passiert Magisches. Die größte Aufholjagd in der Geschichte des internationalen Zehnkampfes. Kaul hat nur noch einen einzigen Versuch. Er braucht ein paar Meter mehr. Die Bässe wummern. Die Menschen erheben sich. Die Masse klatscht. Er saugt es auf und feuert den Speer auf über unfassbare 76 Meter. 40.000 Zuschauer und Niklas Kaul werfen den Speer auf eine Weite, die in diesem Jahr nicht möglich war. Unmöglich. Eigentlich. Nur die Großen der Zunft befreien sich aus misslichen Lagen, wenn sie es müssen.

Alles aus sich herausholen - das ist Kaul

Und plötzlich ist aus dem fast aussichtslosen Jäger, mit einem einzigen Wurf, ein Athlet mit enorm verbesserter Ausgangslage geworden. "Nur" noch 27 Sekunden muss er aufholen. Ein fast auswegloses Unterfangen für alle Unwissenden. Eine realistische Chance für den Kenner. Aber eine schmerzhafte. Eine sehr schmerzhafte. Mit neuer Bestleistung stürmt Kaul nach Gold in Doha zu Gold in München. Und er freute sich auf diesen Tag: Der Tag, an dem er "um sein Leben laufen" und wirklich alles aus sich herausholen muss. Die letzte Millisekunde rausquetschen, ohne Ergebnisverwaltung und Ressourcenschonung am Ende. Erbarmungslos zu sich selbst sein. Weil man es will und weil man es kann. Das ist genau das, was die wirklich Großen ausmacht. Nochmal performen. Nochmal gewinnen. Einen Titel wiederholen. Das ist groß. Das ist schwierig. Das ist Kaul.

"Kaulig" in den Duden einführen

Was soll ich jetzt für neue Superlative einführen? Nachdem seit einiger Zeit im Duden bestimmt schon "das ist Malaika" zu finden ist, wird für das, was gestern da im Stadion passiert ist, sowas wie "münchern" eingeführt. Und außerdem wird demnächst vielleicht "kaulig" oder sowas eingeführt. Für unglaublich tolle Leistung in größter Bedrängnis unter starkem Druck.

Das ist Frank Busemann

Geboren:
26. Februar 1975 (Recklinghausen)
Disziplinen:
Zehnkampf, Hürdensprint
Sportliche Erfolge:
Olympia-Silber 1996 (8.706 Punkte)
WM-Bronze 1997 (8.652 Punkte)
U23-Europameister 110 m Hürden 1997 (13,54 Sek.)
Juniorenweltmeister 110 m Hürden 1994 (13,47 Sek.)
Auszeichnungen:
Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis 2004
Sportler des Jahres 1996
Karriereende:
23. Juni 2003
Karriere nach der Karriere:
Vorträge/Seminare zum Thema Motivation
Buch-Autor
ARD-Leichtathletik-Experte
(Morgenmagazin, Das Erste, sportschau.de)