Timo Boll bei den European Championships im Hauptrundenmatch gegen den Polen Samuel Kulczycki

European Championships Bolls Zittersieg weckt bei ihm Erinnerungen an EM-Sieg 2018

Stand: 17.08.2022 22:42 Uhr

Die Individualisten müssen das deutsche Tischtennis in München zu EM-Medaillen führen, denn die Doppel scheitern überraschend früh. Im Fokus stehen nun Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll.

Von Johannes Kirchmeier, München

Es war schon ein hartes Stück Arbeit, es brauchte Patzer des Gegners, es brauchte eine mächtige Willensleistung. Und es brauchte vielleicht auch dieses Publikum in der Münchner Rudi-Sedlmayer-Halle, dass Timo Boll am Mittwochabend letztlich doch noch mit einem Lachen sagen konnte: "Wer bei dem Rückstand noch an mich glaubt, der sollte kein Glücksspiel betreiben."

Ja, weil er es mit einem Lachen sagte, wird schnell klar: Der Tischtennis-Rekordeuropameister Timo Boll hatte gerade gewonnen. Aber lange sah es wahrlich nicht danach aus gegen die Nummer 152 der Welt, den 20-Jährigen Samuel Kulczycki, in EM-Runde eins. Einer der bekanntesten Athleten dieser European Championships bleibt jedoch weiter im Geschäft – auch wenn es in dem Fall ein "zähes Geschäft" war, wie er selbst sagte.

Boll liegt 1:3 zurück – und dreht das Spiel dank einer Serie

Der achtmalige Titelträger hat das ärgerliche Scheitern also abgewendet, am Ende entschied die Winzigkeit von einem Satzgewinn: 4:3 ging es aus, nachdem Boll beim Stande von 1:3 bereits 3:7 in Satz fünf zurücklag – und nicht mehr allzu viele auf ihn wetteten. Zumal er nach seinem Rippenbruch ja erst vergangenen Donnerstag grünes Licht für die EM-Teilnahme bekommen hatte.

Dann jedoch schrien die Zuschauer immer wieder dieses Mantra: "Auf geht’s, Timo, auf geht’s!" Boll drehte das Spiel dank sechs Punkten in Serie und konnte hinterher in aller Ruhe sagen: "Ich weiß, dass es für diese jungen Spieler schwer ist, so ein Spiel zuzumachen", so der 41-Jährige. "Der Arm wird dann immer noch mal schwer. Und auch, wenn ich bis zu dem Zeitpunkt nicht so gut gespielt habe: Jeder Punkt, den man dann herankommt wieder, macht es umso schwieriger für ihn."

Zähe Spiele zu Beginn kennt Boll bereits

Boll, der sich zu Beginn von Turnieren oftmals schwer tut, dachte sogleich an eine Episode von vor vier Jahren – mit dem Grinsen, das er den ganzen Abend behielt: "Ich kann mich noch an Alicante erinnern. Da war es ähnlich: auch eine Verletzung vorab gehabt, wenig Training gehabt, die erste Runde gerade so überstanden mit einem hohen Rückstand gegen einen jungen Spieler", zählte er auf.

"Und dann am Ende ganz oben gestanden. Aber bis dahin habe ich noch einen harten Weg vor mir." Boll holte sich in Alicante den EM-Titel 2018, seinen damals siebten.

Tischtennis-Doppel verpassen Medaillen

So nahm der gar nicht so schöne Mittwoch für den Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) doch noch ein gutes Ende. Schließlich schieden am Nachmittag die Doppel im Viertelfinale aus. Nach der ebenfalls verpassten Mixed-Medaille kann das DTTB-Team in München nur noch Einzel-Edelmetall holen – und das ein Jahr nach der EM-Rekordbilanz von Warschau mit vier Gold- und drei Silbermedaillen.

"Man ist natürlich enttäuscht", sagte der DTTB-Sportdirektor Richard Prause. "Das ist für uns das Zeichen, dass in Europa alles noch enger zusammenrückt. Da müssen wir ran und es für die Zukunft besser machen".

Männer-Riege zählt zum Favoritenkries

Die Einzel müssen nun also liefern. Und was haben sie nicht eigentlich für ein Weltklasse-Team im deutschen Männer-Tischtennis: Vier Spieler zählen zu den Top 15 der Welt. Da sind die alten Helden, Deutschlands Nummer eins, Dimitrij Ovtcharov, 33, (9.) und Boll, 41, (14.), die ohnehin immer von allen als Mitfavoriten genannt werden.

Aber auch die Aufsteiger Patrick Franziska, 30, (12.) und Dang Qiu, 25, (13.) streben nach ihren ersten ganz großen Einzel-Erfolgen. Die gute Nachricht, alle haben die nächste Runde erreicht, und auch fünf Frauen stehen in den Top 32.

Bei den Männern kommt aber halt auch noch ein "Aber" ins Spiel: "Am Ergometer bin ich viel gefahren, nur an der Platte bin ich wenig gestanden", sagte Boll über die Zeit nach seinem Rippenbruch und die unmittelbare EM-Vorbereitung. An der Antizipation der Schläge der Gegner mangelte es ihm noch, die kam erst gegen Ende der Partie.

Dimitrij Ovtcharov fehlte nach Knöcheloperationen acht Monate

Auch Olympia-Bronzegewinner Ovtcharov fiel nach zwei Knöcheloperationen rund acht Monate aus und gab erst im Juni sein Comeback. Nun beim 4:1 in Runde eins in München gegen Martin Andersen bewegte er sich flüssig, schränkte aber ein: "Ich habe sehr lange keine Wettkämpfe gespielt, war wirklich lange raus. Deswegen kann ich nicht in dem Selbstverständnis wie sonst sagen: Nur der Titel zählt für mich."

Er glaube jedoch, "dass ich das Können habe, das Turnier zu gewinnen. Aber hier gibt es sehr viele starke Spieler, es kann auch mal früher rausgehen." Und auch Franziska hat zuletzt wenig trainiert. Er wurde allerdings während der EM Vater, hatte also aus einem positiven Grund mit dem Training ausgesetzt.

Boll jedenfalls scheint wieder einigermaßen fit nach dem Rippenbruch, nicht nur weil er das Marathonmatch im entscheidenden Satz noch auf seine Seite zog. Er gab auch für eine lange EM-Reise grünes Licht: "Ein, zwei Spiele am Tag, die werde ich schon durchbeißen können", meinte er. Natürlich mit einem Grinsen.