Die Zehnkämpfer Arthur Abele und Niklas Kaul (rechts)
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Leichtathletik-EM Leichtathleten feiern rauschendes EM-Fest in München

Stand: 22.08.2022 10:08 Uhr

Medaillenrausch und Party-Stimmung im Olympiastadion: Die deutschen Leichtathleten haben ihre zweite Chance genutzt und nach dem WM-Trauma ein Sommermärchen bei der Heim-EM in München erlebt. Das historisch schlechte Abschneiden in Eugene wird nun aber aufgearbeitet.

Von Bettina Lenner, München

Am Schlusstag der European Championships ließen es die DLV-Athleten noch einmal so richtig krachen. Allen voran die Sprint-Staffel der Frauen um 100-Meter-Europameisterin Gina Lückenkemper, die trotz eines lädierten Knies das Quartett zu Gold führte - ihrem zweiten in München. Bei der Ehrenrunde erhoben sich rund 45.000 Fans von ihren Sitzen.

Zuvor hatte bereits Speerwerfer Julian Weber den Ruf des Pechvogels nach Platz vier bei Olympia und der WM eindrucksvoll abgelegt und mit 87,66 Metern die Nachfolge von Thomas Röhler angetreten.

Leichtathletik-EM in München - die Highlights des Tages

Sportschau, 21.08.2022 22:00 Uhr

Nach zehn Jahren wieder im Medaillenspiegel vorn

Mit 16 Medaillen - 7 Mal Gold, 7 Mal Silber, 2 Mal Bronze - fuhren die deutschen Leichtathleten nicht nur ein hervorragendes Gesamtergebnis ein, sondern belegten im abschließenden Medaillenspiegel auch Platz eins. Das war zuletzt 2012 bei der EM in Helsinki gelungen (6/7/5). Vor vier Jahren in Berlin hatte es 19 Mal Edelmetall gegeben (6/7/6).

Olympiastadion setzt Maßstäbe

Die DLV-Starter machten in München so richtig Spaß und zündeten ein Feuerwerk der Emotionen. Sie liebten das Heim-Publikum - und das liebte sie zurück. Das Olympiastadion setzte Maßstäbe für künftige Austragungsorte. Wie alle Sportler bei den European Championships wurden auch die Leichtathleten von einer Welle der Euphorie beflügelt und zu Höchstleistungen getragen.

Von der Stimmung getragen

Das war in diesem Ausmaß nicht unbedingt zu erwarten gewesen nach den Ergebnissen kurz zuvor bei den Welt-Titelkämpfen in Oregon/USA. Da hatte es lediglich zwei Medaillen mit Gold für Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo und Bronze durch die Sprint-Staffel der Frauen gegeben.

Die Stimmung habe die Athleten dazu getrieben, ihr Leistungsvermögen auszuschöpfen, konstatierte DLV-Chefbundestrainerin Annett Stein. "Magisch", "krass", "gigantisch" - den Athletinnen und Athleten gingen die Superlative aus um zu schildern, was sie bei den Wettbewerben mitten in der Stadt und im altehrwürdigen Olympiastadion von 1972 erlebten.

Europameister Kaul: "Die Ohren weggeflogen"

Ex-Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er seinen Fokus auf die Heim-EM und weniger auf die erfolgreiche Titelverteidigung in Eugene legen würde.

Als er dann tatsächlich an historischer Stätte im abschließenden 1.500-Meter-Lauf zu Gold stürmte, seien ihm "die Ohren weggeflogen", erzählte der Mainzer: "Es zeigt, dass die schon totgesagte deutsche Leichtathletik lebt. Es gibt sie noch."

Emotionaler Abschied von Arthur Abele

Zumal sich am Abend seiner eindrucksvollen Aufholjagd ein emotionaler Höhepunkt an den nächsten reihte. Wie der berührende Abschied von Kauls Vorgänger Arthur Abele, dessen lange und zuweilen beschwerliche Karriere in München ein spektakuläres Ende erlebte.

Der 36-Jährige war im Hürdensprint wegen eines vermeintlichen Fehlstarts disqualifiziert worden, durfte jedoch nach einem erfolgreichen Protest weiterkämpfen. Nach den 1.500 Metern standen die Zehnkampf-Kollegen Spalier, feierte das Publikum den aufgelösten Sympathieträger wie einen Helden.

Lückenkemper feiert ihr Gold im Krankenhaus

Gänsehaut und Tränen am "Super-Tuesday", der den Leichtathletik-Fans noch lange in Erinnerung bleiben dürfte, denn es ging weiter: Gina Lückenkemper raste im Tollhaus Olympiastadion im dramatischen Foto-Finish-Finale zum ersten 100-Meter-EM-Titel seit zwölf Jahren und feierte ihr Gold im Krankenhaus. Im Ziel war sie gestürzt und hatte sich eine Fleischwunde am Knie zugezogen, die genäht werden musste. Der Staffel-Start hing am seidenen Faden - doch im Finale am Sonntag (21.08.2022) zündete sie den Turbo, als wäre nichts gewesen.

Die Diskuswerferinnen Kristin Pudenz (Silber) und Claudine Vita (Bronze) gingen gleich im Doppelpack auf die Ehrenrunde. "Zehn Prozent mehr Leistung" habe das Heimpublikum aus ihr herausgekitzelt, rechnete die Olympia-Zweite Pudenz vor. Im Leistungssport eine Welt.

Ringer und Co. sorgen für goldenen Auftakt

Tags zuvor hatten die Marathonläufer am rappelvollen Odeonsplatz mitten im Münchner Zentrum für einen goldenen Auftakt gesorgt: Richard Ringer begeisterte die Zuschauer mit einem sensationellen Schlussspurt und krönte sich zum ersten deutschen Europameister über die 42,195 Kilometer. Auch die deutschen Frauen triumphierten mit dem Team.

Dass bei den Männern 50 Jahre nach dem Olympia-Attentat die israelische Mannschaft im Marathon ganz oben auf dem Treppchen stand, zählt zu den vielen schönen Geschichten dieser EM.

Wie auch der Triumph von Konstanze Klosterhalfen. In Eugene nach einer Corona-Infektion noch nicht wieder fit und im Vorlauf entkräftet ausgeschieden, kehrte an der Isar das "Laufgefühl" zurück - und katapultierte die 25-Jährige nach zwei schwierigen Jahren über 5.000 Meter zum ersten Titel ihrer Karriere. "Das ganze Stadion hat gebebt", jubelte die erste deutsche Europameisterin über diese Strecke.

Meyer trotzt Corona - Mihambo muss kämpfen

Auch Lea Meyer ließ sich in München von der Pandemie nicht stoppen. Vom Publikum getragen, schnappte sich die Hindernisläuferin knapp fünf Wochen nach ihrem spektakulären Sturz in den Wassergraben von Eugene mit einem atemberaubenden Lauf EM-Silber - trotz gerade erst überwundener Corona-Infektion.

Weitsprung-Star Malaika Mihambo dagegen musste dem Virus Tribut zollen. Die Titelverteidigerin, die sich kurz nach der WM infiziert hatte, zeigte trotz der schwierigen Umstände eine gute Leistung und gewann Silber, hatte danach aber mit Kreislaufproblemen zu kämpfen. Die EM kam für die Favoritin und das Gesicht dieser European Championships wohl zu früh.

DLV will Lücke zum Weltniveau verkleinern

Die Titelkämpfe waren aus deutscher Sicht dennoch ein Fest, die DLV-Athleten betrieben eine gewaltige Imagepflege. Der Stimmungsaufheller mit Erfolgen gegen europäische Konkurrenz ohne russische und belarusische Athleten kann Schwung für den Weg zur WM im kommenden Jahr in Budapest und zu den Olympischen Spielen 2024 in Paris geben. Wie der DLV es schaffen will, die Lücke zum Weltniveau wieder zu verkleinern, muss den Verband aber nun beschäftigen.

"Die Tage in München haben uns gutgetan. Trotzdem steht das Ergebnis aus Eugene", sagte Stein. "Eine EM ist keine WM." Das "Ziel" bleibe, sich "im Weltmaßstab" mit den starken US-Amerikanern und Afrikanern messen zu können.

Der Zustand der deutschen Leichtathletik liegt irgendwo zwischen Eugene und München.
ARD-Experte Frank Busemann

Mit Weltstar Mihambo, den Europameistern Lückenkemper (25), Klosterhalfen (25) und Kaul (24), Stab-Vize-Europameister Bo Kanda Lita Baehre (23) und Meyer (24) hat der DLV auch für die nächsten Jahre aussichtsreiche Sportler in seinen Reihen. Und bei der U20-WM in Kolumbien Anfang August gewann das deutsche Team mit acht Medaillen so viele wie seit 14 Jahren nicht mehr.

Doch das Thema Sportförderung beschäftigt nicht nur Teamkapitänin Gina Lückenkemper. Der neuen Generation den schweren Sprung zu den Erwachsenen leichter zu machen, wird eine der Aufgaben sein, die es besser zu lösen gilt als bisher.

European Championships künftig ohne Leichtathletik?

Immerhin: Die fröhliche EM-Party dürfte das Interesse an der Leichtathletik als Hauptattraktion der European Championships vergrößert haben. Doch ob die olympische Kernsportart auch 2026 noch Teil der dann dritten Multi-EM sein wird, ist unklar. Der europäische Verband EA will darüber bald entscheiden. Die Athleten sind durchweg begeistert, Teil von etwas Größerem zu sein. Doch darauf wird es nicht ankommen.

"Die europäischen Leichtathletik-Vertreter haben gemerkt, nur noch eine von neun Sportarten zu sein und nicht mehr den Stellenwert zu haben, den wir uns selber zumessen", sagte der deutsche Verbandspräsident Jürgen Kessing, der dem EA-Council angehört. "Das 'Stand alone' als Markenzeichen möchte man wieder herausstellen."