.

NDR-Sport Straßenfußball-DM der Wohnungslosen: Raus aus dem Abseits

Stand: 16.10.2023 14:15 Uhr

Nach vier Jahren Pause fand in Hamburg erstmals wieder die Deutsche Meisterschaft im Straßenfußball der Wohnungslosen statt. Zwölf Teams aus ganz Deutschland spielten vor dem Millerntor-Stadion des FC St. Pauli. Für viele Menschen ohne Zuhause eine Ablenkung vom harten Alltag.

Von Tobias Knaack

Es war ein Todesfall in der Familie, der Daniel Germund aus der Bahn warf. Er zahlt die Miete nicht, geht nicht mehr zur Arbeit, fliegt aus der Wohnung. "Ich bin komplett eingebrochen, habe mich komplett verschlossen", sagt der Hamburger rückblickend auf die Momente, in denen er aus einem geregelten Leben in die Wohnungslosigkeit und zeitweise sogar in die Obdachlosigkeit schlitterte.

"Ich habe es geschafft, aus dem Loch herauszukommen."
— Der ehemalige Wohnungslose Daniel Germund

Denn in der "Anfangszeit war ich komplett auf der Straße", berichtet er im NDR Interview - gemeinsam mit einem Bekannten, der das Hamburger Straßenmagazin "Hinz und Kunzt" verkauft. Nur wenn es zu kalt wurde, nahmen sie das Winter-Notprogramm der Stadt für einen Schlafplatz in Anspruch. Ansonsten: "Schlafen unter Dächern." Es gebe "zum Glück noch genug Kaufhäuser, die das dulden".

Heute hat Germund wieder ein eigenes Dach über dem Kopf, er habe es geschafft, "aus dem Loch wieder herauszukommen", wie er sagt: "Gott sei Dank!" Eine kleine Hilfe auf diesem beschwerlichen Weg zurück: der Sport. In seinem Fall: der Fußball.

Deutsche Meisterschaften im Straßenfußball in Hamburg

Am Wochenende hat Germund mit dem Hamburger Team "Rudi 66" an den Deutschen Meisterschaften (DM) im Straßenfußball vor dem Millerntor-Stadion teilgenommen. Eine seiner Teamkolleginnen ist Bianca Koch, die noch nicht wieder ganz dort ist, wohin Germund es schon wieder geschafft hat. Sie sei "auf dem Weg raus", erzählt sie.

Über die Eingliederungshilfe für Wohnungslose "Rue 66" in Hamburg bekommt sie aktuell eine Wohnung gestellt - parallel aber ist sie auf der Suche nach einer eigenen Bleibe. Eine riesige Aufgabe auf dem überhitzten Wohnungsmarkt der Hansestadt.

"Fußball ist eine Befreiung."
— Die Wohnungslose Bianca Koch

Der Fußball ist für sie "alles. Es ist eine Befreiung. Vom Alltag, von dem ganzen Stress. Es ist eine gute Abwechslung", erzählt sie im NDR Sportclub. Bewegung, Struktur, Gemeinschaft, Erfolgserlebnisse, spüren, dass nicht alles immer nur falsch läuft - in diesen Aspekten kann der Sport, kann der Fußball unterstützen.

Zwölf Mannschaften aus ganz Deutschland starteten in der Hansestadt bei der 20. Auflage der DM. Nach vier Jahren konnte das Turnier erstmals wieder stattfinden. Die Teams kommen aus Einrichtungen der Wohnungslosen-, Drogen- und Straffälligenhilfe, der Flüchtlingsbetreuung sowie von Straßenzeitungen. Kicken können sie alle. Gespielt wird auf dem Beton des Harald-Stender-Platzes vor dem St.-Pauli-Stadion, Banden sind aufgebaut, kleine Tore, Fangnetze.

Roland Kottke, Spieler der Herzogsägmühle im bayrischen Peiting, sagt über die Bedeutung der Veranstaltung: "Der Sport ist klasse, der bringt Leute zusammen. Das ist ganz wichtig, du brauchst ein Team, denn im Team wächst du auch. Du hast auch Verantwortung gegenüber deinen Teamkollegen."

Alleine in Hamburg sind 32.000 Menschen wohnungslos

Turnierleiter Manuel Timmermann ist froh, dass es alle Mannschaften in die Hansestadt geschafft haben. Viele haben einen weiten Weg auf sich genommen - "teilweise aus Süddeutschland", erklärt Timmermann, der früher selbst wohnungslos war. Für viele Teilnehmende sei es "eine schöne Erfahrung, mal was anderes zu sehen".

Raus aus dem Abseits: Meisterschaft im Straßenfußball

Rund 450.000 Menschen sind in Deutschland ohne Wohnung. Alleine in Hamburg kamen zum Stichtag Ende Januar einer Berechnung der "Diakonie Hamburg" zufolge auf 100.000 Einwohner mehr als 1.600 Wohnungslose, insgesamt rund 32.000 Menschen. Ein Jahr zuvor hatte die Zahl bei knapp 19.000 gelegen. Ein Anstieg um 70 Prozent, der in guten Teilen auf die Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine zurückgeht. Nicht enthalten darin sind obdachlos auf der Straße und verdeckt wohnungslos lebende Menschen.

Wohnungslos oder obdachlos - ein großer Unterschied

Die Gründe dafür können vielfältig sein: Sie reichen von Drogenproblemen, Spielsucht bis hin zu persönlichen Schicksalsschlägen - wie bei Germund. Zu Beginn, nachdem er aus seiner Wohnung geflogen war, galt er, da er auf der Straße lebte, als obdachlos. Als wohnungslos hingegen zählen Personen, die "keinen eigenen Mietvertrag haben oder in Unterkünften leben", erklärt Johan Graßhoff, Bundestrainer der deutschen Straßenfußballer. Koch würde aktuell noch darunter fallen.

Bundestrainer Graßhoff ist auch deshalb in Hamburg dabei, weil er bei der Deutschen Meisterschaft Spielerinnen und Spieler sichtet und acht von ihnen auswählt, die für Deutschland an Weltmeisterschaften teilnehmen dürfen.

"Wir suchen die Spieler nach unterschiedlichen Kriterien aus."
— Bundestrainer Johan Graßhoff

Zur WM in diesem Jahr ging es nach Sacramento im US-Bundesstaat Kalifornien. Mit dabei war auch Koch. Und das sogar als Fahnenträgerin. "Eine große Ehre", wie sie sagt. Das Team wurde 26. unter 28 teilnehmenden Ländern. "Wir sagen aber einfach, dass wir 26. geworden sind und verschweigen die 28", so Bundestrainer Graßhoff.

Denn ihm persönlich sei es "wichtiger, dass die Spielerinnen und Spieler, die mitfahren, ihr persönliches Ziel erreichen. Die Platzierung finde ich zweitrangig", auch wenn er sagt, dass man "natürlich besser abschneiden möchte". Bei der Teamzusammenstellung steht für Graßhoff aber "gar nicht nur der Sport im Mittelpunkt, wir suchen die Spieler nach unterschiedlichen Kriterien aus". Auch und gerade im Zusammenspiel mit den Einrichtungen und Trägern, bei denen die Wohnungslosen Hilfe bekommen.

Graßhoff wünscht sich engere Kooperation mit dem DFB

Für die Zukunft wünscht er sich eine engere Kooperation mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB). Andere Länder - er nennt die Schweiz oder Österreich - seien schon weiter, was die Aufmerksamkeit und die Unterstützung durch die nationalen Fußballverbände betrifft.

Aktuell werde Anstoß e.V., der 2006 gegründete gemeinnützige Verein, der die DM mit ausrichtet und die Teilnahme des deutschen Teams an der WM organisiert, über Spenden und Stiftungen finanziert.

Über den Sport zu mehr Struktur und Stabilität

Beim Turnier in Hamburg wird "Rudi 66", die Mannschaft von Koch und Germund, am Ende Fünfter. Eine tolle Platzierung, finden beide - insbesondere, weil "wir so noch nicht zusammengespielt haben", wie Koch erzählt. "Großen Respekt vor der Mannschaft", sagt Germund.

Das gemeinsame Erleben, der Stolz auf das Erreichte, die Verbindung zu Menschen mit ähnlichen Lebensgeschichten, die gegenseitige Hilfe und Unterstützung - der Wert des Turniers geht weit über die Platzierung oder die Zahl der geschossenen Tore hinaus. Im besten Fall trägt der Sport wie bei den beiden dazu bei, dass in Not geratene Menschen in kleinen Schritten wieder zu mehr Struktur und Stabilität finden.

Dieses Thema im Programm:
Sportclub | 15.10.2023 | 22:45 Uhr