Emmanuel Macron (r.) und Jonas Vingegaard (l.) geben sich nach der sechsten Etappe der Tour de France die Hand.

Unruhen in Frankreich während der Tour de France "Sport verdeckt viele Risse"

Stand: 10.07.2023 18:07 Uhr

Rainer Moritz ist Leiter des Literaturhauses Hamburg und Frankreich-Kenner. Im Interview mit der Sportschau blickt er nach den Unruhen auf die gesellschaftliche Situation in Frankreich und die Tour de France.

Sportschau: Was bedeutet die Tour de France für Frankreich?

Rainer Moritz: Das kann man nicht hoch genug einschätzen. Ich habe das über die Jahre verfolgt. Der Name sagt es schon: Tour de France. Sie ist immer ein Bindemittel für die französischen Gesellschaft gewesen. Eines der großen Sportereignisse, das über Jahrzehnte hinweg die entsprechende Aufmerksamkeit gefunden hat. Sport hat etwas Verbindendes, verdeckt auch vieles in einer Gesellschaft, verdeckt Risse in einer Gesellschaft. Und die Tour de France hat das immer geleistet. Dass natürlich nicht alle Französinnen und Franzosen begeisterte Tour-de-France-Anhänger sind, ist ganz klar. Wer sich nicht für diesen Sport interessiert, wird auch der Tour de France wenig abgewinnen und froh sein, wenn es nach ein paar Wochen wieder vorbei ist.

Sportschau: Inwiefern hat die Tour de France auch einen verbindenden Charakter für die französische Nation?

Moritz: Früher waren ja nur französische Städte und Gemeinden daran beteiligt. Das hat sich geändert, auch aus finanziellen Gründen. Aber weil dieses Ereignis eben durch ganz Frankreich führt, merkt man, hier sind alle dabei. Wie gesagt, die, die sich für den Sport interessieren. Und alle schalten natürlich in gewisser Weise ab, weil sie sich auf etwas konzentrieren können, wo es scheinbar nur um den Sport und die Leistung geht.

Sportschau: Wie passt die Begeisterung für die Tour de France, die durch ganz Frankreich führt, gleichzeitig zur gesellschaftlichen Lage des Landes?

Moritz: Das ist nicht nur ein französisches Problem. Man kann das auch in anderen Ländern beobachten, dass solche Ereignisse, das müssen nicht nur Sportereignisse sein, immer dazu dienen, abzulenken von dem, was eine Gesellschaft umtreibt. Dass Frankreich eine gespaltene Nation ist, der Riss durch die Gesellschaft, das ist in Frankreich schon 2005 ganz deutlich geworden, bei den ersten Unruhen. Und jetzt in den letzten Wochen natürlich wieder. Der Sport verdeckt das natürlich. Und Sportlerinnen und Sportler haben alle Mühe, sich zurechtzufinden. Dass diejenigen, die finanziell von einem Ereignis wie der Tour de France profitieren, kein Interesse haben, dass ein politischer Schatten über dieser Veranstaltung liegt, das ist ebenso klar.

Sportschau: Inwiefern zeigt sich diese Spaltung in der Diskrepanz zwischen der Begeisterung für die Tour und der politisch angespannten Situation?

Moritz: Auch das gilt nicht nur für Frankreich. Man kann nicht dauernd als Bürgerinnen und Bürger eines Landes betroffen sein. Man kann nicht dauernd politisch argumentieren. Das ist eine alte Funktion des Sportes: Brot und Spiele. Abzulenken von dem, was geschieht. Das passiert in Frankreich jedes Jahr, wenn die Tour de France beginnt. In diesem Jahr natürlich unter besonderen Vorzeichen. Das heißt, ein solches Sportereignis soll die Bürgerinnen und Bürger auch ablenken, es soll Entspannung liefern. Natürlich ist das alles ein vorübergehender Zustand und verdeckt nicht wirklich, was in einer Gesellschaft rumort.

Rainer Moritz

Rainer Moritz

Sportschau: Der Radprofi Guillaume Martin, Fußball-Profi Kylian Mbappé und andere Nationalspieler haben zum Tod des 17-jährigen Nahel Merzouk und den Krawallen Position bezogen. Welche Bedeutung hat es, wenn sich Athleten und Athletinnen zu politischen Themen äußern?

Moritz: Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Berühmte Sportler sind Ikonen, sind Idole. Und egal was sie sagen, es wird anders aufgenommen, als wenn ein "Normalbürger" sich zu einem politischen Thema äußert. Aber wir wissen alle, wir haben das ja bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar erlebt, dass Sportlerinnen und Sportler in einer Zwickmühle stecken. Das heißt: Wie weit wollen sie sich politisch äußern? Wie weit besteht auch die Angst, es sich eventuell mit Sponsoren zu verderben, ausgegrenzt zu werden? Das ist eine Frage des Charakters. Da muss jeder Einzelne entscheiden. Wichtig für eine Gesellschaft ist es allemal.

Sportschau: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist auch zur Tour gereist. Es war sein erster Aufenthalt außerhalb von Paris nach den Krawallen. Wie schätzen Sie seine Präsenz dort ein?

Moritz: Er ist ein erfahrener Mann der Politik. Der weiß natürlich genau, er braucht symbolische Aktionen. Denken Sie daran, wie sich auch deutsche Politiker und Politikerinnen immer vor allem mit dem Fußball verbunden haben. Denken Sie an Gerhard Schröder, an Angela Merkel. Das gehört seit eh und je dazu, dass die Politik vor allem dann die Nähe zum Sport sucht, wenn die eigene Nation erfolgreich ist. Sich mit Sportlerinnen und Sportlern fotografieren zu lassen, das ist ein großes Ablenkungsmanöver. Und der Glanz des Sports soll auf die Politiker zurückwirken. Das heißt, Macron nutzt diese Gelegenheit ganz bewusst. Er steht ja massiv in der Kritik, was die Unruhen in den Pariser Banlieues angeht. Und ein Event wie die Tour de France bietet ihm die Möglichkeit, selber aus dieser Mühle herauszukommen und sich ein wenig zu sonnen. Das ist natürlich nur vorübergehend. Das wird am Ende der Tour wieder vorbei sein. Aber das ist etwas, was man seit Jahrzehnten in der Politik beobachten kann. Nähe zum Sport soll Popularität schaffen.

Sportschau: Inwiefern muss der Sport dann nicht auch politische Themen aufgreifen, wenn Politiker sich in diesem Glanz einer Sportveranstaltung sonnen?

Moritz: Das ist ein altes Kreuz vor allem mit den Sportfunktionären. Auch hier wieder der Blick zurück nach Katar zur Fußball-WM. Wer ganz weit zurückschaut, kann, was den Fußball angeht, auch die WM 1978 in Argentinien anführen. Man hat es immer gescheut, sich politisch zu äußern. Man hat Angst gehabt, dass der Sport, dass sich Förderer und Sponsoren zurückziehen, wenn offen politisch diskutiert wird. Wenn gar von Boykott die Rede ist. Wenn davon die Rede ist, man könne in solchen Zeiten solche Sportereignisse gar nicht feiern. Das heißt, der Sport tut sich sehr schwer, politisch Flagge zu zeigen. Es gibt immer wieder einzelne Ausnahmen. Athleten, die mutig sind. Die Funktionäre sind es in der Regel nicht.

Sportschau: Die Tour de France wurde in ihrer langen Geschichte auch immer wieder dafür genutzt, um auf politische oder gesellschaftliche Probleme hinzuweisen. Erwarten Sie da noch etwas?

Moritz: Großereignisse wie die Tour de France bieten natürlich eine wunderbare Fläche. Da ist die Aufmerksamkeit da. Obwohl das Interesse, was die TV-Ausstrahlung angeht, in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eher zurückgegangen ist. Aber alle wissen: Dort kann ich Aufmerksamkeit erzielen. Also wenn ich jetzt ein Beispiel erfinde, das aber gar nicht so erfunden klingt: Wenn Aktivisten sich bei einer entscheidenden Etappe der Tour de France festkleben würden, wenn sie die Bergankunft verhindern oder erschweren würden, dann können sie natürlich sicher sein, dass Aufmerksamkeit sofort generiert wird. Ob das immer von Nutzen für die Sache ist, ist eine ganz andere Frage.

Sportschau: Sie selbst haben die Tour de France begeistert verfolgt und sich nach den Doping-Skandalen abgewandt. Wie blicken Sie heute auf die Tour de France?

Moritz: Ja, das habe ich immer noch nicht ganz verschmerzt. Ich war als Schüler und als Jugendlicher ein begeisterter Anhänger der Tour de France. Ich habe mich nachmittags vor den Fernseher gesetzt, habe immer ein Faible für die Schwachen gehabt. Für die, die es nie ganz geschafft haben. Die Symbolfigur dafür ist ja Raymond Poulidor. Der Mann, der x-mal Zweiter und Dritter geworden ist, nie das Gelbe Trikot getragen hat. Der war mir immer viel lieber als Jacques Anquetil oder Eddy Merckx in meiner Jugend. Aber das Doping-Thema, die Skandale um Jan Ullrich, Lance Armstrong, der alle Titel zurückgeben musste. Das hat mich damals erschüttert und ich persönlich habe mich davon nicht erholt. Ich bin da, glaube ich, nicht allein. Man hat ja auch versucht, mit dem Thema Doping anders umzugehen. Aber es bleibt immer noch dieses klamme Gefühl, dass da hinter den Kulissen viel passiert, was wir besser nicht wissen wollen.