Gravel-WM in Italien Topstars der Straße wechseln auf den Schotter
Es ist erst die zweite WM in der noch kurzen Geschichte des Gravel-Sports. Am Wochenende werden in Italien die Titel bei Frauen und Männern vergeben. Am Start sind Stars wie Wout van Aert und Alejandro Valverde. Aber auch der Potsdamer Paul Voß, deutscher Pionier der Sportart und vielleicht ein Medaillenkandidat.
"Ich muss hoffen, dass Wout van Aert oder Alejandro Valverde einen Platten haben und dann ihren Reifen nicht schnell genug flicken können, dann habe ich eine Chance", ordnet Voß seine Perspektiven für das WM-Rennen ein wenig scherzhaft ein. Doch es liegt einige Wahrheit in seinen Worten. Nur bei den Verpflegungsstationen darf technische Hilfe in Anspruch genommen werden. Bei allen Problemen auf der Strecke müssen die Teilnehmer selbst für die Reparatur sorgen.
Paul Voß mag diese Eigenverantwortung. "Es soll laufen, wie ich das möchte." Der 37-Jährige kennt den Radsport auch aus einer anderen Perspektive. Acht Jahre lang war er Straßen-Profi, fuhr drei Mal die Tour de France, trug dort auch das Bergtrikot. Ende 2016 schien seine Leistungssportler-Karriere beim Team Bora-hansgrohe beendet. Da war er 30. Sein Fachwissen teilte Voß danach auch mit vielen Radsport-Fans, als Experte der Tour Übertragungen bei One und der Sportschau.
Radikale Entwicklung im Gravel-Sport
Doch sein Kopf war noch nicht bereit für den sportlichen Ruhestand. Da kam der aufstrebende Gravel-Sport gerade recht. Früh erkannte Paul Voß die Möglichkeiten, fährt jetzt im dritten Jahr als Profi im Gelände. "Seitdem hat sich das sportliche Level extrem verändert", beschreibt er die radikale Entwicklung.
Ihre Ursprünge haben die Gravel-Rennen in den USA. 2006 wurde in Kansas erstmals das "Dirty Kanza" ausgetragen. Das heißt inzwischen "Unbound", ist aber noch immer der Nabel der Gravel-Welt. Es begann einst mit 34 Startern, inzwischen ist es ein sportliches Event mit mehreren Tausend Teilnehmern. Eine Art Wimbledon des Gravel-Sports.
Deutschlands Paul Voß in Aktion.
Riesiger Markt
Reine Gravel-Räder, eine Mischung aus Renn- und Crossrad, tauglich sowohl auf der Straße aber auch auf Schotterwegen, gibt es erst seit etwa 2015. Seitdem ist ein riesiger Markt entstanden. Hochleistungsrennmaschinen, Räder für Bike-Packing oder auch robuste Alltags-Versionen um einfach schnell zur Arbeit zu gelangen. Alles zusammengefasst unter dem Oberbegriff Gravel.
"Am Anfang war das ein großer Hype. Doch dieses Stadium hat der Gravel-Sport längst überstanden. Das sieht man an der wachsenden Zahl der Veranstaltungen, den Teilnehmerzahlen bei Rennen, aber auch dem Geld, das in die Sportart hineingekommen ist", urteilt Gravel-Pionier Voß.
Einen ähnlichen Eindruck vermittelt Grischa Niermann, sportlicher Leiter beim Straßenteam Jumbo-Visma und somit im Alltag Chef des Tour-de-France-Siegers Jonas Vingegaard oder von Topstar Wout Van Aert. "Als Wout schon zu Beginn des Jahres seine Ambitionen für die Gravel-Weltmeisterschaft mit uns geteilt hat, war klar, dass wir ihn unterstützen. Ich glaube zwar nicht, dass Gravel dem Straßenradsport den Rang ablaufen wird, aber gerade für die Radhersteller ist es extrem wichtig. Da ist ein sehr großer Markt entstanden."
Jumbo-Visma unterstützt seinen Star
Deswegen stellt das Jumbo-Visma-Team seinem Star auch extra den großen, luxuriösen Mannschaftsbus für die WM zur Verfügung. Nur für ihn allein. Alle Rahmenbedingungen für Wout van Aert sollen perfekt sein. Bei Paul Voß sieht das deutlich bescheidener aus. "Ich habe meinen Privat-Pkw, einen Waschlappen und meine Schwester Sarah." Die ist im normalen Leben Physiotherapeutin und so eine unverzichtbare Unterstützung für ihren ambitionierten Bruder bei den Titelkämpfen in der Provinz Treviso.
Im Männer-Rennen starten dort am Sonntag unter anderem auch Ex-Straßenweltmeister Alejandro Valverde, Mailand-Sanremo-Sieger Matej Mohoric und Titelverteidiger Gianni Vermeersch. Noch hochkarätiger ist die Besetzung des Frauen-Rennens. Tour-de-France-Siegerin Demi Vollering wird ebenso dabei sein wie die Dritte Katarzyna Niewiadoma oder auch die weltbeste Sprinterin Lorena Wiebes.
"Gefühlt Richtung Himmel"
Auf die Frauen warten am Samstag 141 Kilometer, die Männer müssen am Sonntag 163 Kilometer bewältigen bis zum Zielort Pieve di Soligo. Teils auf Asphalt, größtenteils aber im Gelände. Gerade im Finale lauern happige Anstiege, bis etwa 20 Prozent steil. "Da fährt man gefühlt direkt Richtung Himmel. Wir werden dort kaum schneller unterwegs sein, als mit fünf oder sechs km/h", beschreibt Paul Voß die wohl entscheidenden Stellen.
Ein Kurs, der ihm nach eigener Einschätzung entgegenkommt. Und seine aktuelle Form passt sowieso. "Ich bin auf einem ganz anderen Level unterwegs als noch vor einem Jahr." Das bewies Deutschlands einziger Gravel-Profi am vergangenen Wochenende mit dem Gewinn der Bronze-Medaille bei der Europameisterschaft in Belgien. Nur geschlagen von Weltklasse-Straßenprofis wie dem früheren Mailand-Sanremo-Sieger Jasper Stuyven und Tour-Etappensieger Tim Merlier.
"Früher auf der Straße hätte ich gegen solche Gegner kaum mithalten können, jetzt beim Gravel sieht das anders aus". Entsprechend hegt Voß leise Hoffnungen auf den Gewinn einer WM-Medaille. An seinen Fähigkeiten zu einem schnellen Reifenwechsel wird es jedenfalls nicht scheitern. Schließlich ist er es als "praktisch Einmann-Team" schon seit Jahren gewohnt, auf sich allein gestellt zu sein.