Leichtathletik-WM

Jahresrückblick 2023 Die WM der Chancensucher - deutsche Leichtathleten enttäuschen

Stand: 27.12.2023 12:33 Uhr

Die Leichtathletik-WM in Budapest war eine ausgelassene Sommerparty, der auch die Hitze keinen Abbruch tat. Nur die Deutschen wirkten, als wären sie nicht wirklich eingeladen. Sportschau-Reporter Ralf Scholt blickt auf das Event zurück und analysiert, woran es beim DLV derzeit hakt.

Von Ralf Scholt

Die WM in Budapest war heiß. Eine bunte, ausgelassene Sommerparty, der auch die gnadenlose Hitze nichts anhaben konnte. In Doha 2019 war die Wüstenhitze der Skandal schlechthin. In Ungarn interessierten Temperaturen von dauerhaft jenseits der 30 Grad anscheinend kaum mehr jemanden.

Die Leichtathletik hat fast ungerührt davon abgeliefert, mit allen Facetten, kleinen und großen Dramen, mitreißenden Duellen und erstklassigen Leistungen. Nur die Deutschen wirkten, als wären sie nicht wirklich eingeladen zur bunten Party.

Keine Medaille - DLV enttäuscht auf ganzer Linie

Die deutsche Bilanz war am Ende niederschmetternd: null Medaillen. Insgesamt gewannen aber 46 (!) Nationen in Budapest Medaillen. Diese enorme Breite in der Spitze gibt es nur in der Leichtathletik. 

Gleichzeitig liegt die Messlatte für mögliche deutsche Erfolge in Zukunft extrem hoch. Deutschland war keineswegs allein in der Medaillenflaute. Auch in Frankreich mit nur einer Staffel-Medaille, Brasilien (1), Polen (2) und China (2) gibt es heftige Diskussionen kurz vor Olympia in Paris.

Begeisterte Zuschauer - Propagandashow missglückt

Budapest und Ungarn wollten diese Titelkämpfe, unbedingt. Aber das Kalkül des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban, dabei eine nationalistische Propagandashow abzuziehen, ging gründlich schief. Das Wechselspiel zwischen Sportlerinnen und Sportlern und den begeisterten Zuschauern entkoppelte sich von allen politischen Spielchen.

Sieger war die Vielfalt der Leichtathletik über alle Nationengrenzen hinweg. Das Stadion, täglich gut gefüllt, bot die Bühne für die großen Stars und packende Wettbewerbe, und auch die TV-Quoten und die Streaming-Nutzung waren sehr gut - und das ohne deutsche Erfolge.

Fans außer Rand und Band, große Emotionen

Dabei war die Energie im Stadion, wenn es um die Medaillen ging, oft berauschend. Wann immer ich konnte, bin ich von unserem Adlerhorst der TV-Tribüne in die Kurve gegangen, um den Vibe unmittelbar zu spüren. So konnte ich mitten in der britischen Gemeinde von Familie und Freunden erleben, wie Josh Kerr im 1.500-m-Finale das scheinbar Unmögliche schaffte: In einem packenden Finish bezwang der schmale, blasse Schotte den vermeintlich unschlagbaren Jakob Ingebrigtsen. Die Fans um mich herum flippten völlig aus, Kerr sprang mitten ins Gewühl, das Stadion tobte: Der Chancensucher Josh Kerr schaffte die goldene Sensation.

Nur selten habe ich so viele Reaktionen bekommen wie zur Abendsession der Hochspringer und dem Diskuswurf der Frauen. Direkt nebeneinander im Stadion lieferten Werferinnen und Springer eine faszinierende Show mit sehr unterschiedlichen Darstellern. Hier der extrovertierte Olympiasieger Gianmarco Tamberi, der ein ganzes Stadion mit drei Gesten und seinen eleganten Sprüngen verzaubern kann. Dort die emotionale Außenseiterin Laulauga Tausaga, deren sensationeller Triumph mit dem Diskus niemanden kalt ließ.

DLV nur mit wenigen Top-Leistungen

Die Deutschen spielten hier mit Tobias Potye, Kristin Pudenz und Shanice Kraft und den Plätzen 5, 6 und 7 eine gute Rolle, verließen die Show dennoch mit mit leeren Gesichtern. Sie hatten, wie übrigens viele Deutsche, ihre Leistungen gebracht, waren aber im Strudel der Weltklasseleistungen und der wilden Party emotional überfordert.

Der DLV hatte sich täuschen lassen von der Medaillenflut bei den Europameisterschaften in München vor einem Jahr. Der Verband wähnte sich auf einem guten Weg, aber das Weltniveau ist mit Europa nicht vergleichbar. Echte deutsche Hoffnungsträger sind an einer Hand abzählbar. Wenn dann Top-Leisterinnen wie Malaika Mihambo, Konstanze Klosterhalfen oder Lea Meyer ausfallen, wird die Luft im Medaillenkampf sehr dünn.

Im DLV arbeitet man an Problemlösungen, aber der Weg zu Erfolgen ist lang und braucht mehr: Gefragt sind diese Chancensucher! Athletinnen und Athleten, die ihren eigenen Weg zum Erfolg konsequent suchen und umsetzen. Mit dualer Karriere, Teilzeittrainern und halbherzigen Lösungen rund um regionale Befindlichkeiten und Konzepten von Gestern wird das in der Leichtathletik nicht mehr gelingen.

Neugebauer zahlt Lehrgeld - und ist doch Vorbild

Es braucht mehr wild-entschlossene Chancensucher wie Leo Neugebauer. Ja, auch der Zehnkämpfer von der University of Texas hat in Budapest schmerzhaft Lehrgeld gezahlt. Zu Beginn des zweiten Tages noch in Führung liegend, ließ Leo sich von einer Winzigkeit ablenken: Neugebauer erhielt wegen eines kleinen Wacklers beim Start zum 110m-Hürdenlauf die Gelbe Karte.

Statt dies als Lappalie abzutun, diskutierte er mit dem Kampfrichter. Der Fokus war weg und nur mit Ach und Krach schaffte er es danach überhaupt ins Ziel. Anschließend verwackelte er, immer noch mit den Nerven zu Fuß, seine Paradedisziplin, das Diskuswerfen.

Zwei krasse Ausreißer nach unten kann sich niemand bei einem WM-Zehnkampf leisten, die Medaille war einfach weg. Aber Leo Neugebauer haderte nicht lange, brachte seinen Mehrkampf mit guten Leistungen als Fünfter ins Ziel. Und sehr schnell, noch bei den Interviews in Budapest, stellte Neugebauer den Fokus auf die nächste globale Chance: 2024, Paris, die Olympischen Spiele.

Dort werde er alles besser machen, ganz bestimmt. Der Chancensucher Leo Neugebauer träumt nicht nur von der Medaille, er will mit seinem professionellen Umfeld in Houston ganz nach oben, zu den Stars der Leichtathletik.

"World champion of what" - Lyles-Spitze gegen die NBA

Der Mega-Star der WM Noah Lyles nutzte schließlich seine Chance am Schlusstag der WM. Nach drei Titeln über 100m, 200m und mit der Staffel setzte er eine klug inszenierte Spitze gegen die amerikanischen Profiligen und die Basketballer in der NBA. Wie könne die NBA bitteschön Weltmeister küren? Weltmeister von was, den USA etwa?

Lyles zelebrierte diese rhetorische Frage vor der Weltpresse in Budapest. Der Trainigspartner von Gina Lückenkemper in Florida stieß mit seinem "world champion of what?" mitten ins Herz der selbstverliebten Profiligen in seiner Heimat.

Sprint-Weltmeister Noah Lyles - "Weltmeister von was?"

Sportschau, 19.12.2023 18:22 Uhr

Lyles pointierte Ansage brachte ihm reichlich Schlagzeilen und ihn in jede Talk-Show, seine WM-Titel zuvor nicht. Den heftigen Shitstorm der beleidigten NBA-Profis tanzte er elegant aus: Nur die Leichtathletik vereine schließlich fast alle Nationen der Welt im Kampf um Medaillen.