Symbolbild Doping China

"Geheimsache Doping" "Die Akte China" - die offenen Fragen

Stand: 26.04.2024 17:51 Uhr

Die ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping: Die Akte China" hat weltweit Aufsehen erregt und massive Kritik an der Welt-Anti-Doping-Agentur zur Folge. Vor allem die nach Ausstrahlung der TV-Doku im Rahmen einer Internationalen Pressekonferenz der WADA abgegebenen Erklärungen rund um die chinesische Doping-Verdachtsaffäre sorgten für Unverständnis und zum Teil auch Empörung.

Von Hajo Seppelt und Nick Butler

Inzwischen hat die WADA bekannt gegeben, einen "unabhängigen Staatsanwalt" mit der Überprüfung der Angelegenheit zu beauftragen. Laut Mitteilung der WADA soll er aber nur eine mögliche Voreingenommenheit der Organisation gegenüber China überprüfen sowie die Entscheidung der WADA, das Vorgehen der chinesischen Anti-Doping-Agentur nicht anzufechten.

Die zentralen Fragen rund um die angeblichen Vorgänge in der Hotelküche in China scheinen demnach für die WADA in dieser Überprüfung keine Rolle mehr zu spielen. Warum dies so ist, teilte die WADA nicht mit.

Die ARD-Dopingredaktion listet hier alle zentralen Fragen im Zusammenhang mit der Affäre auf, die entweder bisher unbeantwortet blieben oder weitere Fragen zum Vorgehen der WADA aufwerfen.

1. Hat die WADA versucht herauszufinden, wie die verbotene Substanz Trimetazidin überhaupt in die Hotelküche gelangt ist?

Nein, das hat sie nicht. WADA-Offizielle haben erklärt,

dass

a) nach Angaben der chinesischen Seite angeblich die "endgültige Quelle nicht entdeckt wurde"

 und

b) sie die Darstellung der chinesischen Anti-Doping-Agentur (CHINADA) akzeptiert und damit das Versäumnis, die Quelle zu finden, nicht beanstandet haben.

2. Hat die WADA versucht herauszufinden, wie Trimetazidin in der Hotelküche in die Lebensmittel der Athleten gelangt ist?

Nein, sie hat die vage und unbewiesene chinesische Theorie nicht in Frage gestellt, dass Trimetazidin während des Kochvorgangs irgendwie aus einem Gewürzbehälter in die Speisen der Athleten gelangt sei – entweder an einem oder mehreren Tagen.

3. Eine ganze Trimetazidin-Tablette, die in die Küche gelangt wäre, hätte in den protokollierten Zeitabläufen bei jedem der 23 Athleten zu Urinproben zu massiv erhöhten Konzentrationen der Substanz geführt. Geringe Konzentrationen, wie sie angeblich bei den Athleten gemessen wurden, wären nur durch die Kontamination mit Bruchteilen einer Tablette möglich gewesen. Hat die WADA versucht, dies aufzuklären?

Unklar. Das ARD-Experiment hat bewiesen, dass sich Bruchteile einer handelsüblichen Trimetazidin-Tablette selbst bei einem Sturz aus großer Höhe nicht ablösen. Auch beim Reiben einer Tablette zwischen den Händen ist dies nicht der Fall. Die WADA hingegen erklärte, dass eine Pille zerdrückt oder geteilt worden sein könnte. Doch selbst dies wäre kein wahrscheinliches Szenario, denn die verschreibungspflichtigen Trimetazidin-Tabletten werden ohnehin in verschiedenen Konzentrationen und Dosierungen in Apotheken, etwa in China, angeboten. Patienten könnten also immer auf kleinere Pillen zurückgreifen.

4. Hat die WADA das Versäumnis beanstandet, dass die für die Verunreinigung verantwortliche Person im Hotel nicht identifiziert wurde?

Nein. Die angeblich in der Küche vorhandene Videoüberwachung wurde offenbar nicht daraufhin geprüft. Bei der chinesischen Untersuchung wurde angeblich auch nicht ermittelt, ob einer der Küchenangestellten das Herzmedikament nehmen muss oder eingenommen hat. Dies wäre auch deshalb relativ einfach festzustellen gewesen, weil das Medikament verschreibungspflichtig ist. Die WADA beanstandete nicht, dass die CHINADA keine Antwort auf die entscheidende Frage gab, wer der angebliche Verursacher der angeblichen Kontamination in der Küche gewesen sein soll.

5. Hat die WADA hinterfragt, wie Trimetazidin im Falle einer singulären Kontamination vor dem Wettkampf im Januar nach einer Verzögerung von mindestens zweieinhalb Monaten (vermutlich sogar länger), bei der angeblichen Untersuchung mit der Unterstützung des staatlichen Polizeiapparats noch immer in der Küche gefunden werden konnte?

Offenbar nicht. Die WADA hat diese Erklärung nicht in Frage gestellt, trotz der strengen Desinfektions- und Reinigungsrichtlinien, die damals aufgrund der Covid-Pandemie in ganz China in Kraft waren. Hier – ganz im Gegensatz zur Antwort auf die Frage vier - wurde von den Chinesen die Video-Überwachung als angeblicher Beweis für eine mangelnde Reinigung herangezogen. Es ist indes sehr schwer realistisch vorstellbar, dass durch den Abfluss der Küche – eine von den drei Stellen, an denen angeblich Trimetazidin-Spuren gefunden worden waren – in den vielen Wochen bis zur vermeintlichen Untersuchung des Polizeiapparates kein Wasser geflossen sein soll. Genauso wie durch Desinfektionsmittel wären auch durch einfaches Leitungswasser die Spuren längst verschwunden gewesen.

6. Hat die WADA die Art und Weise in Frage gestellt, wie die Untersuchung des Hotels durch das Ministerium für öffentliche Sicherheit, eine Organisation mit geheimpolizeilichen Befugnissen, durchgeführt wurde?

Nein. Die WADA sagte, sie habe keinen Grund gesehen, die Ergebnisse anzufechten und der Organisation, die die Untersuchung durchführte, zu misstrauen.

7. Welchen Beleg haben die Chinesen vorgelegt, dass die Vorgänge in der Küche überhaupt wie beschrieben stattgefunden haben bzw. dass die Spuren in der Küche tatsächlich wie behauptet jemals gefunden worden sind? Hat jemand in Erwägung gezogen, dass die gesamte Untersuchung in der Hotelküche durch das chinesische Ministerium für öffentliche Sicherheit einfach nur erfunden war?

Nein. Weder die WADA noch die chinesische Anti-Doping-Agentur oder der Schwimm-Weltverband World Aquatics haben dies anscheinend in Betracht gezogen - und tun es immer noch nicht.

8. Warum hat die WADA so deutlich auf die niedrigen Konzentrationen von Trimetazidin in den Urinproben der 23 Athleten hingewiesen?

Unklar. Die niedrigen Konzentrationen könnten genauso durch Verunreinigung wie durch Doping in den Tagen und Wochen vor dem Wettkampf zustande gekommen sein. Das Trimetazidin wäre dann zum Zeitpunkt der Tests einfach noch nicht vollständig aus dem Körper ausgeschieden gewesen. Die niedrigen Konzentrationen, die gefunden wurden, beweisen nichts.

9. Warum hat die WADA so deutlich auf die schwankenden positiven und negativen Werte der Urinproben einiger der 23 Athleten hingewiesen?

Unklar. Im Hinblick auf Fälle mit niedrigen Konzentrationen in Dopingproben haben der ARD-Dopingredaktion mehrere wissenschaftliche Experten - darunter auch solche, die in Verbindung mit WADA-akkreditierten Laboren stehen - bestätigt, dass die Zufuhr von mehr oder weniger Flüssigkeit, zum Beispiel durch Trinken, dazu führen kann, dass niedrige Konzentrationen mal knapp über, mal knapp unter der Nachweisgrenze liegen können. Dies seien völlig normale biochemische Reaktionen und in keiner Weise ausschließlich ein Beleg für eine Verunreinigung. Tatsächlich werden solche Muster auch im Anschluss an absichtliche Dopingzyklen festgestellt.

10. Ist in den Ausführungen der WADA oder im CHINADA-Report irgendwo von einer B-Probe des Urins der positiv getesteten Athleten die Rede?

Nein, weder die CHINADA noch die WADA haben sich dazu schriftlich oder mündlich öffentlich erklärt.

11. Kann ausgeschlossen werden, dass die 23 Athleten gedopt haben oder gedopt wurden?

Nein, trotz entgegengesetzter Behauptungen der WADA. Nach Aussage mehrerer Experten für Biochemie, mit denen wir für die ARD-Doku gesprochen haben, ist Trimetazidin im Falle der Einnahme einer Dosis, die leistungsrelevant ist, mindestens für zwei bis drei Wochen im Körper nachweisbar.

12. Warum hat die WADA die Reduzierung der Kontrollen bei den 23 Athleten in den letzten drei Dezemberwochen an keiner Stelle jemals erwähnt?

Die Recherchen der ARD haben gezeigt, dass die 23 Schwimmer im September, Oktober und November 2020 relativ häufig getestet wurden. Nach der ersten Dezemberwoche kam es jedoch plötzlich zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Tests - also in den drei Wochen vor dem Wettkampf. Die Einnahme von Trimetazidin hätte in dieser Zeitspanne durchaus Sinn ergeben, zumal eine deutlich geringere Anzahl von Dopingtests das Risiko des Auffliegens deutlich reduziert hätte. Die WADA ging in ihren Erklärungen auf diese Auffälligkeiten in keiner Weise ein – auch dann nicht, als sie die ARD-Berichterstattung zur Kenntnis genommen hatte.

13. Warum hat die WADA im März 2021 nicht darauf bestanden, dass die CHINADA die Vorfälle als Verstöße gegen die Anti-Doping-Bestimmungen wertet (inklusive vorläufiger Suspendierungen der betroffenen Athleten und Veröffentlichung der Fälle), da es ja zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen Hinweis auf eine angebliche Kontamination gegeben hatte?

Vorläufige Suspendierungen und Veröffentlichungen zu den positiven Tests sind die übliche Praxis in solchen Situationen – hier aber geschah diesbezüglich nichts. Die WADA wusste aber bereits im März 2021 von den positiven Tests. Die WADA erklärte jetzt, dass sie entgegen allen üblichen Regularien nicht gegen das Vorgehen der Chinesen einschritt, weil man in diesem Fall schon damals von einer Kontamination ausgehen konnte. Dies ist unzutreffend, weil die angebliche Kontamination durch das Ministerium für öffentliche Sicherheit nach Angaben der CHINADA erst später festgestellt worden sein soll.

14. Warum hat die WADA in diesem Fall den Grundsatz der verschuldensunabhängigen Haftung nach einem positiven Dopingtest stillschweigend aufgegeben, die sogenannte Umkehr der Beweislast (Strict Liability)?

In der Dopingbekämpfung gilt nach dem Welt-Anti-Doping-Code der Grundsatz, dass ein Sportler die Verantwortung dafür trägt, was bei Dopingkontrollen in seinem Körper gefunden wird. Kann er nicht mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit belegen, dass die Dopingsubstanz ohne sein persönliches Verschulden in den Körper gelangte, muss er sanktioniert werden. Nach einem positiven Dopingtest ist er im Grunde genommen so lange zunächst als schuldig zu betrachten, bis gegebenenfalls seine Unschuld bewiesen wird. Dieser von vielen Athleten immer wieder kritisierte, aber von der WADA stets entschieden verteidigte Grundsatz ist in diesem Fall offenkundig außer Acht gelassen worden, ohne dass je Außenstehende davon etwas mitbekommen hatten.

Die WADA erklärte jetzt, ihr habe die "konkrete Grundlage" gefehlt, um gegen die chinesische Entscheidung Einspruch einzulegen - obwohl zu keinem Zeitpunkt ein Beweis für die Quelle oder den Verursacher der Verunreinigung vorgelegt worden ist. Die CHINADA hatte entschieden, gegen die Athleten nicht weiter vorzugehen.

15. Warum hat die WADA wiederholt angedeutet, dass die Athleten während des Wettkampfs auf mehrere Hotels verteilt waren und somit den falschen Eindruck erweckt, eine Kontamination in einem Hotel sei plausibler?

Dies war irreführend und lässt die Schlussfolgerung zu, dass die WADA damit Verwirrung stiften wollte. Denn von den 201 teilnehmenden Athleten wohnten 186 im Huayang Holiday Hotel. Allein das Gastgeberteam aus Hebei, das nicht extra anreisen musste, war nicht dort untergebracht. Es ist davon auszugehen, dass die WADA diese Information kannte.

16. Hat die WADA nachgefragt, warum nicht mehr Athleten, die an dem Wettbewerb teilnahmen, positiv getestet wurden?

Nein, das hat sie offenbar nicht. In dem Bericht heißt es, dass insgesamt 39 Athleten getestet wurden, darunter drei, die angeblich in einem anderen Hotel wohnten. Abgesehen von den 23 positiv getesteten Athleten bleiben also noch 13 weitere, die im selben Hotel übernachteten, anscheinend auch dort aßen, aber ausschließlich negativ getestet wurden. Warum wurden sie nicht auch kontaminiert?

17. Olivier Rabin, wissenschaftlicher Direktor der WADA, hat in der internationalen Pressekonferenz wiederholt darauf verwiesen, dass ein Informationsaustausch mit Pharmaherstellern im Fall China die Annahme einer Kontamination untermauert habe. Pharmaunternehmen erforschen aber in der Regel gar nicht die Nachweisbarkeit bzw. das Nachweisfenster von Substanzen wie Trimetazidin in Urinproben, aller Wahrscheinlichkeit erst recht nicht, wenn es sich nur um geringe Mengen handelt. Klinische Studien basieren fast ausschließlich auf Blutproben, nicht auf Urinproben. Woher stützt sich daher konkret die Behauptung der WADA, dass Pharmaunternehmen die WADA-Argumentation untermauern?  Und warum macht die WADA diese angeblichen Schlussfolgerungen nicht transparent?

Dazu hat die WADA bzw. Olivier Rabin keine Angaben gemacht.

18. Warum wurde bei denjenigen, die in dem Hotel gegessen haben, keine Haaranalyse durchgeführt, um weitere Beweise zu finden?

Die Haaranalyse hätte helfen können, zwischen einer einmaligen Einnahme (die auf eine Kontamination hindeutet) und einer längerfristigen Einnahme von Trimetazidin zu unterscheiden. Sie hätte auch bei anderen Personen durchgeführt werden können, die im selben Restaurant gegessen haben, auch bei Nicht-Athleten, um festzustellen, ob auch sie kontaminiert waren. Bei den meisten Personen hätte man noch Monate nach den positiven Tests Haarproben durchführen können, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ein aussagekräftiges Ergebnis hätten liefern können. Dies war eine der wichtigsten Methoden in früheren mutmaßlichen Dopingfällen, in denen auch das Kontaminationsszenario eine Rolle spielte.

Weder die CHINADA noch die WADA haben erklärt, warum diese Methode diesmal nicht angewandt wurde.

19. Warum hat die WADA nicht im Nachhinein andere Athleten vor der Gefahr einer Trimetazidin-Kontamination gewarnt, wenn sie doch angeblich besteht?

Unbekannt. Die WADA sprach von der Notwendigkeit der Vertraulichkeit, sie hätte aber Athleten auf der ganzen Welt warnen und wissenschaftliche Untersuchungen über die Möglichkeit einer Trimetazidin-Kontamination in Auftrag geben können, selbst wenn sie dabei nicht auf den konkreten Fall eingegangen wäre – wie schon in ähnlichen Fällen in der Vergangenheit geschehen.

20. Wie haben sich die Erklärungen der WADA bezüglich der Causa vor und nach der ARD-Publikation geändert?

Die WADA teilte der ARD-Dopingredaktion vor Ausstrahlung der Dokumentation mit, dass sie keine eigene unabhängige Untersuchung der angeblichen Vorgänge vor Ort in China habe einleiten müssen, da sie keinen Grund gesehen habe, die Ergebnisse des CHINADA-Reports anzuzweifeln. Nach der Ausstrahlung der ARD-Dokumentation und nachdem öffentlich die Frage diskutiert worden war, warum die WADA vor Ort in China nicht selbst ermittelt hat, behauptete sie plötzlich, dass sie aufgrund der Pandemielage in China dazu nicht in der Lage gewesen sei. Die WADA hat sich in der Pressekonferenz nicht mehr zu diesem Widerspruch geäußert.

21. Warum hat die WADA in den Jahren 2022, 2023 oder 2024 keine Untersuchungen auf chinesischem Boden durchgeführt?

Die WADA behauptet, dies sei nicht notwendig gewesen. Es wäre allerdings naheliegend gewesen, dies zu tun, wenn die Pandemielage tatsächlich ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein soll, vorher nicht vor Ort zu ermitteln.

22. Welchen Wert hat die WADA Informationen von Informanten, mutmaßlich aus China, beigemessen, die Vorwürfe des vorsätzlichen Dopings und der Vertuschung enthielten?

Die WADA behauptet, dass sie nicht in der Lage war, direkten Kontakt mit Hinweisgebern aufzunehmen. Aber in Anbetracht der spezifischen Informationen zu möglichen Dopingfällen und der Behauptung, die Fälle seien vertuscht worden – diese Informationen hat die WADA nach eigenen Angaben erhalten - stellt sich die Frage nach einer angemessenen Reaktion: Warum war die WADA dennoch überzeugt, nicht weiter intensiv – auch in China selbst – zu ermitteln?

23. Entspricht der Fall China mit den mysteriösen Begleitumständen nicht vielmehr genau dem Szenario, das die Ermittlungsabteilung der WADA hätte animieren müssen, noch viel genauer zu untersuchen und Ermittlungen vor Ort in China einzuleiten?

Ja. Die WADA hat in Veröffentlichungen auf Verbesserungen ihrer, wie sie sagt, unabhängigen Ermittlungskapazitäten hingewiesen. Sie hatte im Nachgang zur Aufdeckung des russischen Dopingskandals das Regelwerk insofern ändern können, dass auch unabhängige Ermittlungen seitens der WADA in Ländern mit Verdachtsfällen de jure möglich sind.  Es wurden ausdrücklich Fortschritte betont, die man angeblich seit den Versäumnissen rund um die Aufdeckung des russischen Staatsdopingskandals gemacht hat. Dieser Skandal war im Dezember 2014 vor allem durch eine ARD-Dokumentation ans Licht gekommen.

24. Warum hat die WADA im Fall China anders gehandelt als bei der russischen Eiskunstläuferin Kamila Walijewa?

Kamila Walijewa wurde positiv getestet, ihre Urinprobe wies ähnliche Konzentrationen von Trimetazidin auf, wie sie laut CHINADA-Bericht auch bei den betroffenen Schwimmern nachgewiesen worden waren. Walijewa führte in ihrer Verteidigung eine Verunreinigung durch Medikamente ihres Großvaters an. Die WADA glaubte ihr diese Erklärung nicht und setzte sich in einem Einspruchsverfahren vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS für eine vierjährige Sperre ein, die dann auch verhängt wurde. Der offensichtliche Unterschied zwischen den beiden Affären: Die Causa Walijewa war der Weltöffentlichkeit bereits bekannt, vom Fall China wusste kein Außenstehender.

25. Warum wurden die Ergebnisse der 23 Schwimmer des Wettkampfes vom Januar 2021 offenbar nicht annulliert, obwohl diese dort positiv getestet worden waren?

Nach den Anti-Doping-Bestimmungen sind Ergebnisse von Wettkämpfen, bei denen Dopingmittel im Körper der Athleten gefunden werden, zu annullieren. Unabhängig von der tatsächlichen Schuldfrage hatten die Schwimmer den Ergebnissen der Urinproben zufolge ein leistungssteigerndes Mittel im Körper. Warum im Fall China dennoch offenbar keine Disqualifikationen erfolgten, ist unbekannt.

26. Wie wurde mit dem Juniorenweltrekord umgegangen, den eine der betroffenen Schwimmerinnen bei dem Wettkampf im Januar 2021 aufgestellt hat?

Yu Yiting, damals 15 Jahre alt, stellte bei dem Wettkampf in Shijiazhuang, bei dem sie positiv getestet wurde, einen Juniorenweltrekord über 400 m Lagen auf. Der Weltverband World Aquatics hat diesen Weltrekord offenbar nie bestätigt. Begründet hat er dies nicht.

27. Warum wertete die WADA es als Unschuldsindiz, dass das WADA-akkreditierte Dopingkontrolllabor in Peking die positiven Tests im WADA-Meldesystem ADAMS ordnungsgemäß eingetragen hatte?

Das bleibt unklar, denn das WADA-akkreditierte Doping-Kontrolllabor in Peking, das die Tests positiv gab, und die chinesische Anti-Doping-Agentur CHINADA, die die Athleten letztlich entlastete, sind nicht ein und dieselbe Einrichtung und haben nicht automatisch dieselben Interessen aufgrund unterschiedlicher formaler Abhängigkeiten.

Das WADA-akkreditierte Labor hätte, wenn es die positiven Tests nicht gemeldet hätte und dies herausgekommen wäre, mit Sicherheit zumindest vorübergehend seine Zulassung verloren.

Nach dem russischen Dopingskandal hat die WADA aus den Erfahrungen mit dem Moskauer Labor Lehren gezogen und betont immer wieder, dass die Arbeit von Dopingkontrolllaboren über alle Zweifel erhaben sein müsse. Wäre das Pekinger Labor das Risiko eingegangen, nicht regelkonform zu handeln, hätte die WADA gar nicht anders gekonnt, als konsequent zu reagieren und das Labor sofort zu suspendieren. Die Folgen eines nicht regelkonformen Vorgehens wären somit für das Labor gravierend gewesen.

Zudem war das Pekinger Labor als zentrale Dopingkontrollstelle der Winterspiele 2022 in Peking vorgesehen. Die Anti-Doping-Verantwortlichen und das Internationale Olympische Komitee hätten im Falle einer Suspendierung oder gar eines Akkreditierungsentzuges vor kaum lösbaren logistischen Herausforderungen gestanden.

Das Labor in Peking war bereits 2016 wegen Problemen in seinen Abläufen kurzzeitig suspendiert worden.

Die CHINADA hingegen hatte im Nachgang, wie sie behauptet, eine offizielle Untersuchung mit Unterstützung des Ministeriums für öffentliche Sicherheit eingeleitet. Unabhängig von der Frage, was dabei herausgekommen ist, hat sie damit das Regelwerk nicht verletzt.

Im Gegensatz zu dem Eindruck, den die WADA durch ihre Aussagen auf ihrer Pressekonferenz erweckt hat, stehen die Meldungen des Pekinger Labors an die WADA nicht im Zusammenhang mit dem Vorgehen der CHINADA.

28. Hat die WADA nachgeforscht, wo die 23 Athleten in den drei Wochen vor den positiven Tests im Januar 2021 trainiert haben?

Die WADA scheint einfach eine Behauptung in dem CHINADA-Bericht akzeptiert zu haben, wonach alle Athleten vorher getrennt trainiert haben und daher nicht gemeinsam gedopt haben können. Doch dies ist irreführend oder gar unzutreffend, denn in der Sportgeschichte hat es zahlreiche Beispiele gegeben, die zeigen: Dezentral organisierte Dopingsysteme unter staatlichem Einfluss, in denen Top-Athleten in verschiedenen Regionen unter Anleitung verschiedener Trainer betreut wurden, hat es schon gegeben. Dabei kamen an verschiedenen Orten gleiche oder ähnliche Doping-Mittel und -Methoden zum Einsatz.

29. Hat die WADA oder hat World Aquatics direkt mit den 23 Athleten kommuniziert, die von diesem Fall betroffen sind?

Im Gegensatz zu den meisten anderen Dopingverdachtsfällen gibt es keinen Hinweis darauf, dass eine direkte Kommunikation mit den Athleten stattgefunden hat. Die Frage, ob die WADA oder World Aquatics jemals mit den Athleten kommuniziert haben, ist bislang nicht beantwortet worden. Die ARD-Dopingredaktion hat versucht, über den chinesischen Schwimmverband mit allen Athleten Kontakt aufzunehmen, erhielt aber keine Antwort.

30. Warum sprach der Generaldirektor der WADA, Olivier Niggli, in diesem Fall davon, "unschuldige" chinesische Athleten müssten geschützt werden - obwohl weder Schuld noch Unschuld bisher bewiesen sind?

Unklar. Der Eindruck entsteht, dass die WADA in dem Versuch, sich selbst zu schützen, einen neuen Spin setzt, um ihr Vorgehen zu verteidigen. Es gibt viele mögliche Erklärungen, warum die chinesischen Athleten doch bewusst gedopt haben könnten. Doping mit Trimetazidin vor einem Wettkampf oder auch mitten in der Trainingsphase ergibt durchaus Sinn. Die Energiezufuhr in die Muskeln wird verbessert. Daher kann härter trainiert werden, um längerfristige Effekte zu erzielen. Möglich ist auch, dass man einfach auf die falsche Information vertraute, die Substanz sei zum Zeitpunkt der Tests im Körper nicht mehr nachweisbar. Ob diese Aspekte von der WADA berücksichtigt worden sind, ist nicht bekannt.

31. Auffällig ist: Der Weltverband World Aquatics steht weniger stark in der öffentlichen Kritik als die WADA – woran liegt das?

Das Hauptaugenmerk lag tatsächlich auf der WADA, aber der Welt-Schwimmverband World Aquatics - damals noch unter der Bezeichnung FINA - hatte ebenfalls das Recht, zu ermitteln und gegebenfalls Berufung gegen die CHINADA-Entscheidung einzulegen. World Aquatics schloss sich aber den Schlussfolgerungen und der Entscheidung der WADA an.

32.  Hat die WADA schon vor den Vorgängen in China in Fällen Massenkontaminationsszenarien als Erklärung akzeptiert?

Ja, das hat sie mehrfach. In manchen Fällen schienen die Argumente nachvollziehbar zu sein, bei manchen gab es aber auch schon in der Vergangenheit große Fragezeichen. Das vielleicht prägnanteste Beispiel dafür stammt aus dem Jahr 2016.

Dopingverdacht bei Jamaikanern?

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Eingefrorene Proben von den Olympischen Spielen 2008 in Peking waren damals erneut analysiert worden. Dabei wurde festgestellt, dass viele jamaikanische Sprinter während der Spiele positiv auf geringe Mengen des verbotenen Steroids Clenbuterol getestet worden waren. Dies wurde auf den Verzehr von kontaminiertem Fleisch in China zurückgeführt, und die Athleten wurden von der WADA und dem Internationalen Olympischen Komitee heimlich freigesprochen.

Eine ARD-Recherche im Frühjahr 2017 ergab jedoch,

dass

a) die Athleten in einer vollständig kontrollierten Sicherheitszone des Olympischen Dorfes gegessen hatten, in der laut damaligen Angaben der chinesischen Behörden keine Fleischkontamination möglich war.

b) offenbar allein Jamaikaner, mit einer Ausnahme, von der angeblichen Fleischkontamination betroffen waren.

c) die einzige Ausnahme, der polnische Kanute Adam Seroczynski, für seinen Clenbuterol-Befund während der Spiele gesperrt wurde.

d) die Jamaikaner sogar selbst erklärten, sie hätten zuvor ausschließlich mitgebrachtes eigenes Essen konsumiert und keinerlei chinesische Nahrungsmittel, die laut WADA und IOC kontaminiert gewesen sein könnten.

e) dass ein überführter Doping-Dealer gegenüber der ARD im Interview erklärte, dass jamaikanische Trainer vor den Olympischen Spielen 2008 nach dem Einsatz von Clenbuterol zur Anwendung bei ihren Sportlern gefragt hätten.

Auch der Umgang der WADA mit Dopingverdachtsfällen oder bewiesenen Fällen in anderen Ländern wurde und wird immer wieder in Frage gestellt oder kritisiert - zum Beispiel in Russland, Spanien, Thailand, Aserbaidschan und der Türkei.

33. Kann die WADA, World Aquatics oder eine andere Organisation des Anti-Doping-Kampfes den Fall der 23 chinesischen Schwimmer erneut aufrollen?

Das erscheint möglich, wenn man zu dem Schluss kommt, dass die Ermittlungen damals nicht ordentlich erfolgten oder neue Informationen bekannt werden. Die WADA betont aber, dass sie nicht die Absicht habe, sich den Fall nochmal vorzunehmen, und dass sie immer genauso wieder handeln würde. Auch andere Einrichtungen, die mit Anti-Doping-Fragen zu tun haben – wie in diesem Fall World Aquatics - könnten unter den genannten Voraussetzungen den Fall neu aufrollen.

34. Warum erklärt die WADA wiederholt, dass ein erneutes Aufrollen des Falles, vor allem ein Einspruch gegen die CHINADA-Entscheidung vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS im Juni 2021, keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte und man daher auch deshalb davon Abstand genommen habe?

Als weltweiter Regulator im Kampf gegen Doping ist es die Aufgabe der WADA, bei allen Dopingverdachtsfällen als oberste Aufsichtsinstitution genau hinzuschauen. Nach Ansicht von Kritikern sollte die WADA dabei in strittigen oder unklaren Fällen nicht vor Verfahren zurückschrecken, auch wenn diese möglicherweise nicht zu ihren Gunsten enden könnten. Im Sinne des Anti-Doping-Kampfes und möglicher Konsequenzen, die aus solchen Fällen gezogen werden können, erscheint es aus Sicht von Kritikern sinnvoll, Einspruchsverfahren anzustreben statt diese auszuschließen.

Redaktion: rbb