Trainer Marcel Rapp (l.) von Holstein Kiel mit Spieler Timo Becker

NDR-Sport Datenanalyse zum Kader von Holstein Kiel nach dem Bundesliga-Aufstieg

Stand: 15.05.2024 14:00 Uhr

Holstein Kiel ist souverän in die Fußball-Bundesliga aufgestiegen. Geschäftsführer Carsten Wehlmann will den Aufstiegshelden vertrauen. Die Datenanalyse zeigt aber, dass es im Kader einige Baustellen gibt.

Von Florian Neuhauss

Die Euphorie in und um Kiel ist dieser Tage verständlicherweise groß. Der Sprung der KSV Holstein in die Bundesliga ist historisch - und basiert auf harter Arbeit, nicht zuletzt von Trainer Marcel Rapp. Doch mit dem Aufstieg fängt die Arbeit erst richtig an. Nicht für die Spieler, die nach dem letzten Saisonspiel am Sonntag (15.30 Uhr, im NDR Livecenter) bei Hannover 96 in den verdienten Urlaub gehen. Doch vor Rapp und besonders Wehlmann liegen arbeitsreiche Wochen und Monate.

"Wir vertrauen auf die Jungs. Die Mannschaft hat einen hervorragenden Job gemacht." Der Kader müsse lediglich "optimiert" werden, hatte Manager Wehlmann zuletzt gesagt.

Angesichts der Tatsache, dass in Kapitän Philipp Sander (Borussia Mönchengladbach) und Shootingstar Tom Rothe, der wohl zu seinem Stammverein Borussia Dortmund zurückkehren wird, zwei der wichtigsten Spieler im Kader nach der Saison "Tschüs" sagen, bedarf es aber schon einer großen Anstrengung, überhaupt das Niveau zu halten. Und das würde laut der Datenscouting-Agentur Global Soccer Network (GSN) nicht einmal reichen, um in der Bundesliga zu bestehen.

Kiel in der Bundesliga: Höhenflug oder Bruchlandung?

Nimmt man den GSN-Index als Grundlage, sind gerade einmal vier Spieler des aktuellen Kaders bundesligatauglich. Darunter Rothe und Colin Kleine-Bekel, der sich im März das Kreuzband gerissen hat und noch lange ausfallen wird. Im Liga-Vergleich belegt Kiel beim durchschnittlichen "Performance-Score" der Teams lediglich Rang sieben - vorne liegen hier der HSV vor St. Pauli und Düsseldorf. Und auch nach Expected points hätten eigentlich andere Clubs in der Tabelle die Nase vorn haben müssen: Hinter St. Pauli und Düsseldorf stünde Hannover 96 auf dem dritten Platz. Kiel ist nur Sechster.

Was ist der GSN-Index?

Vier-Säulen-Prinzip:

  • 1. "fußballerische Eigenschaften": Technik, Spielübersicht oder der erste Kontakt: Einschätzungen über 130 fußballspezifische Eigenschaften von mehr als 300 Scouts weltweit.
  • 2. "fußballerisches Potenzial": Wo werden Spieler besser, wo stagnieren sie oder entwickeln sich zurück? Ein Algorithmus analysiert Daten aus der ersten Säule und vergleicht Spielertypen.
  • 3. "Performance auf dem Spielfeld": Tore, Pässe, Fouls, Schüsse oder auch Abseitspositionen: die Spiel-Basisdaten und weiterführende Analysen wie "Expected goals" oder "Action scores" werden durch einen Algorithmus in einen übergeordneten Kontext gesetzt - zum Beispiel positionsbezogen.
  • 4. "Spielniveau": Jede Mannschaft oder Liga hat einen Zahlenwert, der ihre Stärke bemisst. Oberliga oder Champions League: Umso höher das Spielniveau des Gegners, desto positiver wirkt es sich auf den GSN-Index aus.

Bewertungs-Skala:

  • 85 - 100: Weltklasse
  • 70 - 85: internationale Klasse
  • 60 - 70: Durchschnitt Bundesliga bzw. der Top 5 Ligen
  • 50 - 60: Durchschnitt 2. Bundesliga
  • 40 - 50: Durchschnitt 3. Liga
  • 30 - 40: Durchschnitt Regionalliga

Zwei GSN-Index-Werte:

  • aktueller GSN-Index: zeigt die aktuelle, allumfassende Qualität eines Spielers basierend auf den Daten der vier Säulen und Algorithmus-Berechnungen.
  • möglicher GSN-Index: Künstliche Intelligenz ermittelt anhand der Daten das bestmögliche, zukünftige Leistungsniveau eines Spielers.

Was ist der "Performance-Score"?

  • Tore, Pässe, Fouls, Schüsse oder auch Abseitspositionen: die Spiel-Basisdaten und weiterführende Analysen wie "Expected goals" oder "Action scores" werden beim "Performance-Score" durch einen Algorithmus in einen übergeordneten Kontext gesetzt - zum Beispiel positionsbezogen.
  • Beim "Performance-Score" sind alle Spieler zunächst einmal auf 0 gesetzt und werden anhand der reinen Leistungsdaten, kombiniert mit Datenmodellen, bewertet.
  • Damit liefert dieser Wert eine Einschätzung, wie gut oder schlecht ein Spieler aktuell spielt.
  • Der "Performance-Score" ist ein Baustein des GSN-Index, der wiederum eine generelle, langfristige Bewertung aller Fähigkeiten, Potenziale und Qualitäten eines Spielers ist.

Was ist das "Expected points"-Modell?

Die Expected points ermitteln die Anzahl der Punkte, die eine Mannschaft aus einem Spiel hätte holen "müssen", basierend auf den Torchancen, also den "Expected goals", die sie in diesem Spiel generierte bzw. hätte bekommen müssen. Jedes Team bekommt zwischen 0,1 und 2,7 Expected points, je nachdem, wie einseitig das Spiel aus Sicht der "Expected goals" war.

Zahlen, die deutlich machen, dass das Pendel in dieser Saison auch hätte gegen die Holsteiner ausschlagen können. Sie werfen auch die Frage auf: Setzen die "Störche" eine Etage höher - wie Bundesliga-Aufsteiger Heidenheim in dieser Saison - ihren Höhenflug fort oder legen sie - wie der zweite Neue Darmstadt - eine Bruchlandung hin?

14 Kieler nur "bedingt bundesligatauglich"

Laut GSN ist das Gros des aktuellen Kieler Aufgebots nur "bedingt bundesligatauglich". In diese Kategorie zählen demnach die Torhüter Timon Weiner und Thomas Dähne genauso wie Antreiber Timo Becker, Routinier Lewis Holtby, Kapitän Sander, Torjäger Steven Skrzybski und seine Sturmkollegen Fiete Arp und Benedikt Pichler. Nicht wenige von ihnen haben sich bereits in der Bundesliga versucht - und konnten sich dort (bisher) nicht durchsetzen.

Neben Rothe und Kleine-Bekel haben laut der Analyse der Daten und der Fähigkeiten nur Marko Ivezic und Shuto Machino das Potenzial, in der Ersten Liga eine gute Rolle zu spielen. Vier Akteure werden in die Rubrik "junge Spieler zum Verleihen" einsortiert, für sie komme die Bundesliga noch zu früh. Sieben Spieler sind laut der Datenerhebung nicht bundesligatauglich.

Fünf große Baustellen im Kader der KSV

GSN hat fünf Hauptbaustellen im Kieler Kader ausgemacht. Demnach fehlen: ein (Bundesliga-)erfahrener zentraler Mittelfeldspieler, der mit Übersicht und Passsicherheit das Spiel der Kieler lenkt und auch offensiv in Erscheinung tritt.

Strenggenommen müsste er besser als Kapitän Sander sein, dessen Position im System er einnehmen müsste. Außerdem würde ein defensiver Mittelfeldspieler, der schnell auf Ballverluste reagieren und effektiv in der Balleroberung sein kann, dem Kader guttun. Dies war eins der größeren Mankos im Kieler Spiel dieser Saison.

Neben einem Verteidiger mit starkem Spielaufbau gibt es auch noch zwei Baustellen in der Offensive: Gesucht werden sollten ein technisch versierter Flügelspieler und ein Stürmer, der die sich dem Underdog in der Bundesliga bietenden Räume zu nutzen weiß und stark im Abschluss ist.

Einziger Neuzugang ist bisher Rechtsaußen Andu Kelati von 1899 Hoffenheim II. Der 21-Jährige hat Potenzial - wird von GSN aber als noch nicht reif genug für die Erste Liga eingestuft. Auch Ba-Muaka Simakala und Kwasi Wriedt, die in dieser Saison verliehen waren, helfen in der Bundesliga wohl nicht weiter.

Mammutaufgabe für Wehlmann - Hoffnungsträger Rapp

Kurzum: Wehlmann steht vor einer Mammutaufgabe. Zumal es ein schmaler Grat ist zwischen dem Umbau des Kaders auf der einen Seite und der Aufstiegseuphorie im Team auf der anderen, die durch zu viele Personalrochaden schnell dahin sein könnte.

Als Hoffnungsträger taugt vor allem Trainer Rapp - der sich in dieser Saison als der "Bessermacher" erwiesen hat. Sein GSN-Index weist ihn schon jetzt als soliden Bundesliga-Trainer aus. Dabei ist die KSV seine erste Cheftrainerstation im Profibereich. Ihm ist es zuzutrauen, Kiel in der Bundesliga zu neuen Überraschungen zu führen.

Dieses Thema im Programm:
Sportclub | 19.05.2024 | 22:50 Uhr