Schachspieler Hans Niemann beim Sinquefield Cup

Fehde mit Schach-Star Carlsen Der rasante Aufstieg des Hans Niemann

Stand: 22.09.2022 14:15 Uhr

Nach Magnus Carlsens absichtlicher Niederlage gegen den US-Amerikaner Hans Niemann brodelt es in der Schach-Welt. Doch wer ist der 19-Jährige eigentlich? Über die Karriere eines selbstbewussten Jungen aus dem Internet.

Von Stefan Löffler

Magnus Carlsen ist überzeugt: Die künftige Nummer eins im Schach ist heute noch keine zwanzig Jahre alt. Gut möglich, dass er eines Tages von einem Inder - Dommaraju Gukesh, Arjun Erigaisi oder Rameshbabu Praggnanandhaa - abgelöst wird. Vielleicht auch vom Usbeken Nodirbek Abdusattorow oder dem deutschen Hoffnungsträger Vincent Keymer. Die besten Chancen gibt Carlsen Alireza Firouzja - der im Iran geborene Franzose war in der Weltrangliste schon zeitweise auf Platz zwei. Aber Hans Niemann? 

Leistungssprung während der Pandemie

Der 19-jährige Amerikaner ist während der Pandemie verdächtig schnell aufgestiegen. Im Oktober 2020 betrug seine Elozahl (eine Bewertung, in die alle mit langer Bedenkzeit gespielten Turnierpartien einfließen) 2.465, womit er an der Schwelle zu den besten tausend Spielern der Welt stand. Heute steht er bei 2.699 und zählt zu den besten 50.

Selbst erklärt Niemann seinen Leistungssprung damit, dass er zuletzt mehr Turniere als jeder andere bestritt und Tag für Tag zwölf Stunden an seinem Spiel arbeitet. Ablenkungen duldet er nicht. Für Partys oder eine Freundin sei in seinem Leben kein Platz. Weltmeister will er werden. Schaffe er es nicht mindestens unter die Top Ten, sei sein Leben gescheitert, sagte er dem Podcast "Perpetual Chess". 

Schachspieler Hans Niemann beim Sinquefield Cup

Als Streamer konnte Niemann mehr verdienen

Als er mit 16 zu Hause auszog und ein Schachstipendium an einer New Yorker Privatschule antrat, träumte Niemann von einem Studium in Harvard. Mit Schachunterricht und einem Stream auf Twitch verdiente er bald mehr, als er zum Leben brauchte. Harvard sagte schließlich ab, zu Unrecht, wie er meint, zumal er Harvard so gerne selbst eine Absage erteilt hätte.

Denn da hatte er sich nach eigener Schilderung schon entschieden, es als Profi zu versuchen. Er würde längst nicht so viel verdienen wie als Streamer und Schachlehrer, doch Turnierschach war seine Leidenschaft, und als Stipendiat des US Chess Trust bekam er immerhin 35.000 Dollar.

Leben aus dem Koffer

Während der letzten Monate vor dem Schulabschluss hatte er nur noch online Unterricht und war bereits auf Schachtour. Seitdem lebt Niemann aus dem Koffer und nur für das Schach. Ausschließlich harte, fokussierte Arbeit führe zum Ziel.

Als Vorbilder nennt er den Basketballer Kobe Bryant, den Rapper Kanye West - und Bobby Fischer. Amerikas einziger Schachweltmeister sei zwar später abgedriftet, räumt Niemann ein, doch wenn Fischer Schach nicht gehabt hätte, wäre er noch viel früher verrückt geworden.

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Selbstbewusst, aber nur gewöhnlich begabt?

Der Sohn einer dänischen Mutter und eines aus Hawaii stammenden Vaters, beide IT-Manager, brachte schon zu seiner ersten Schachstunde ein unbändiges Selbstbewusstsein mit. Die Familie, zu der auch drei Schwestern zählen, lebte damals für ein Jahr in Houten bei Utrecht.

Der achtjährige Hans behauptete, die Regeln schon zu kennen, aber konnte nur mit dem König ziehen und rochierte mit seinen Pferdchen. Sein Schachlehrer Pieter Jan Mellegers fand ihn motiviert, aber nicht außergewöhnlich begabt. Für die Schulauswahl reichte es nicht. Niemann schreibt später, dass er dann eben Radrennen fuhr und einer der schnellsten seines Jahrgangs in den Niederlanden gewesen sei.

Vom Nachrücker zum Überflieger

Zurück in San Francisco besuchte er mit seiner Mutter eine Simultanvorstellung von Magnus Carlsen. 2.000 Dollar kostete ein Platz zum Mitspielen. Behalte das Geld, habe er seiner Mutter gesagt, eines Tages werde er gegen Carlsen antreten, ohne dafür bezahlen zu müssen. Am 4. September 2022 war es soweit.

Weil der Ungar Richárd Rapport wegen einer kürzlichen Covid-Infektion noch nicht in die USA reisen durfte, kam Niemann als Ersatz kurzfristig zu seinem ersten Weltklasseturnier: dem Sinquefield Cup in St. Louis.

Zum Start ein solides Remis gegen den Neuamerikaner Lewon Aronjan. In Runde zwei brachte sich der Aserbaidschaner Schachrijar Mamedscharow gegen Niemann eher selbst um den Sieg. In Runde drei gegen Carlsen lief es nicht viel anders. Niemann musste nur einige sehr gute Züge finden und er hatte zwei Weltklasseleute geschlagen.

Carlsen setzt Verdacht in die Welt

Der nominell schwächste Teilnehmer führte die Tabelle an. Tags darauf zog sich Weltmeister Carlsen vom Turnier zurück und ließ lediglich ein altes Mourinho-Zitat für sich sprechen: "Ich ziehe es vor, nichts zu sagen. Wenn ich etwas sage, komme ich in große Schwierigkeiten, und ich möchte nicht in große Schwierigkeiten kommen." Die Schach-Szene deutete Carlsens Ausstieg als Betrugsvorwurf gegen Niemann. Angeheizt wurden die Spekulationen unter anderem durch den amerikanischen Großmeister Hikaru Nakamura, der mit seinen Online-Streams ein Millionenpublikum erreicht.

Weil Carlsen vor der Hälfte der Runden ausschied, wurde Niemanns Sieg gegen den Norweger nur für die Weltrangliste, nicht aber den Sinquefield Cup gewertet. Niemann nicht länger allein an der Spitze. Am Ende reichte es für Platz sechs.

Beim Onlineturnier Julius Bär Generations Cup setzte Carlsen seinen Boykott gegen Niemann mit einer absichtlichen Niederlage nach nur einem Zug fort. Am Mittwochabend (21.09.2022) wurde das Viertelfinale des Turniers ausgelost. Carlsen und Niemann treffen zumindest in dieser Runde nicht erneut aufeinander.