Die Bundesliga-Profis Haller, Baumgartl, Richter und Boetius (Imago/Revierfoto; Jan Huebner; Matthias Koch | Collage: rbb)

Fälle in der Bundesliga Höheres Hodenkrebs-Risiko für Fußballprofis?

Stand: 27.09.2022 17:52 Uhr

Vier Fälle von Hodenkrebs innerhalb weniger Monate haben die Krankheit nicht nur in der Fußball-Bundesliga in den Mittelpunkt gerückt. Ein Blick auf mögliche Ursachen und Fußballer als Vorbilder für mehr Sensibilisierung.

Normalerweise schießen einem als erstes gezerrte Muskeln, gerissene Außenbänder oder ein kaputtes Kreuzband in den Sinn, wenn man an typische Fußballverletzungen denkt. In den vergangenen Monaten war es hingegen eine Erkrankung, die fernab von allem Sportlichen die Gespräche rund um die Bundesliga geprägt hat: Hodenkrebs.
 
Innerhalb nicht einmal eines halben Jahres wurde bei vier Bundesliga-Profis ein bösartiger Tumor diagnostiziert. Nach Unions Timo Baumgartl, Herthas Marco Richter und dem Dortmunder Sébastien Haller traf es vergangene Woche in Jean-Paul Boëtius noch einen Herthaner. Nachdem die Krankheit Hodenkrebs bis dato weder im öffentlichen Diskurs noch in Sportlerkreisen wirklich ein Thema war, wird aktuell häufiger über sie gesprochen.
 
Die hierbei zuletzt prägendste Frage: Ist es schlichtweg ein Zufall, dass gleich vier Bundesliga-Profis in einem Jahr an Hodenkrebs erkranken - oder sind Fußballer besonders anfällig für die Krankheit? Dass diese Frage nun so oft gestellt wird, hängt vor allem mit den vier betroffenen Profis und ihrem Umgang mit der Krankheit zusammen.

Hertha-Profi Jean-Paul Boetius beim Training (imago images/Matthias Koch)
Tumor-OP bei Herthas Jean-Paul Boetius "gut verlaufen"

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Die Häufigkeit von Hodenkrebs

Um die vier aktuellen Hodenkrebs-Fälle in der Bundesliga einordnen zu können, braucht es zunächst einen Überblick über die Krankheit. Von den insgesamt rund 500.000 Menschen, die pro Jahr in Deutschland eine Krebsdiagnose gestellt bekommen, waren im Jahr 2019 laut dem "Zentrum für Krebsregisterdaten" vom Robert Koch Institut (RKI) ca. 268.000 Männer betroffen. Hodenkrebs machte dabei mit rund 4.150 Fällen lediglich 1,6 Prozent der Krebserkrankungen bei Männern aus, betrifft also hierzulande nur relativ wenige Menschen. Zum Vergleich: Dem gegenüber standen über 68.000 Prostatakrebs-Erkrankungen und mehr als 35.000 Fälle von Lungenkrebs bei Männern.
 
Sortiert man die Daten aus dem Krebszentrum des RKI jedoch nach dem Alter der Betroffenen, ergibt sich ein anderes Bild. Es fällt auf: Im Alter von 20 bis 39 Jahren – sprich genau dem Alter, in dem auch die allermeisten Profifußballer sind – ist unter Männern Hodenkrebs mit rund 35 Prozent und großem Abstand die am weitesten verbreitete Krebsvariante. Die Leiterin des Zentrums für Keimzell- und Hodentumore an der Berliner Charite, Dr. Mandy Hubatsch, sagt rbb|24: "Dass junge Patienten in diesem Alter betroffen sind, ist für uns ganz normal – das sehen wir auch in der Häufigkeit." Hubatsch gibt allerdings ebenfalls zu: "Dass es so viele Fußballspieler gleichzeitig sind, das ist für uns auch neu."
 
Vier Hodenkrebs-Fälle in der Bundesliga innerhalb weniger Monate sind also auch aus Sicht der Expertin nicht normal. Auch rechnerisch lässt sich diese Einschätzung belegen: Baumgartl, Richter, Haller und Boëtius sind vier von etwa 500 aktuellen Bundesliga-Profis. In den vergangenen Monaten sind also rund 0,8 Prozent der Erstligaspieler an Hodenkrebs erkrankt. Was nach wenig klingt, wirkt viel, wenn man bedenkt, dass seit 2015 jährlich lediglich bei rund 0,2 Prozent der 20- bis 39-jährigen Männer in Deutschland Hodenkrebs diagnostiziert wurde. In anderen Worten: Statistisch gesehen wäre durchschnittlich ein solcher Krankheitsfall pro Jahr in der Bundesliga normal – vier sind hingegen offensichtlich außergewöhnlich viele.

Sport als Förderer des Hodenkrebs-Risikos?

So ist in den vergangenen Monaten immer wieder die Frage gestellt worden, ob Fußballer wie Baumgartl und Co. bedingt durch ihren Sport ein erhöhtes Risiko für Hodenkrebs-Erkrankungen haben. So erklärte der Hamburger Urologe Prof. Dr. Frank Sommer im Juli: "Internationale Studien zeigen, dass Jungen, die vor der Pubertät extrem anstrengenden Leistungssport machen, ein erhöhtes Risiko für Hodenkrebs haben, unabhängig von genetischen Faktoren."
 
In einem Interview mit dem Südwestrundfunk (SWR) betonte Sommer zwar: "Normalerweise ist jemand, der Sport treibt, tumorprotektiv, hat also weniger Krebsrisiko als jemand, der sich nicht bewegt und schlecht ernährt." Hodenkrebs könnte hierbei, laut Sommer, allerdings die Ausnahme darstellen – etwa bedingt durch deren Empfindlichkeit (bspw. für Veränderungen der Körpertemperatur) in der vorpubertären Phase. Es ist eine Möglichkeit, die der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit derzeit in einer eigenen Studie tiefergehend untersucht.

Kein bewiesener Zusammenhang

Für den Moment aber bleibt auch Sommer bei seinen Ausführungen im Konjunktiv. "Nein, das kann man so eindeutig nicht festlegen", beantwortet auch er die Frage nach einem bewiesenen Zusammenhang von Sport und dem Hodenkrebs-Risiko. Ähnlich bewertet das die Charite-Ärztin Hubatsch: "Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass ein Zusammenhang besteht."
 
Ein etwas ausführlicherer Blick auf die Studien vergangener Jahrzehnte zum Thema ergibt das gleiche Bild: Einerseits gibt es zwar tatsächlich die von Sommer angesprochenen Studien mit Hinweisen auf ein erhöhtes Hodenkrebs-Risiko infolge frühen Leistungssports. Andererseits kommen die Mehrzahl der Studien jedoch entweder zu dem Schluss, dass es keinen Zusammenhang zwischen Sport und dem Risiko, an Hodenkrebs zu erkranken gibt oder aber, dass Sport dieses Risiko – wie bei anderen Krebsvarianten auch – sogar senkt. Auch die vielen Reisen und der mitunter stressige Alltag eines Fußball-Profis sind laut Hubatsch keine Risikofaktoren – anders als beispielsweise die genetischen Voraussetzungen eines Mannes.

Hubatsch spricht deswegen mit Blick auf die vier aktuellen Hodenkrebs-Fälle von "einer Koinzidenz" und erklärt: "Das bedeutet, dass sich unterschiedliche Ereignisse zum gleichen Zeitpunkt ergeben, dies allerdings reiner Zufall ist." Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren weder in der Fußball-Bundesliga noch unter Profi-Sportlern anderer Sportarten hierzulande mehr als eine Handvoll Hodenkrebs-Erkrankungen publik wurden. Statt besonders anfällig für Hodentumore zu sein, würden Fußballer und Profisportler allgemein laut Hubatsch schlichtweg "in das Patientenklientel passen, das wir auch in der Klinik immer wieder sehen."

Vorbildliche Offenheit und Aufklärung

Die generelle Gefahr einer Hodenkrebs-Erkrankung bleibt natürlich dennoch bestehen – insbesondere bei jüngeren Männern. Zwar ist Hodenkrebs in aller Regel so gut behandelbar, dass über 95 Prozent der Betroffenen vollständig geheilt werden können, dennoch plädiert auch Hubatsch für mehr Aufklärung und Sensibilisierung. "Die meisten jungen Männer wissen gar nicht, dass sie die Altersgruppe sind, die Hodentumore bekommt", sagt sie. Ein Umstand, der sich allen voran dank des offenen Umgangs der Fußballer mit ihrer Krankheit derzeit zu ändern beginnt.
 
So machte Unions Baumgartl seine Erkrankung bereits im Frühjahr beeindruckend offen publik. Während Hodenkrebs allgemein für viele Männer nach wie vor ein unangenehmes Thema ist, zeigte Baumgartl rund um seine Diagnose, Operation und auch Chemotherapie keine Scham. Er diente so auch Marco Richter als Vorbild zum Vorbild. Als Richter Anfang August wenige Wochen nach seiner Diagnose auf den Hertha-Trainingsplatz zurückkehrte, sagte auch er über das Thema Hodenkrebs: "Es ist unter Männern schon ein Tabuthema. Aber ich hoffe sehr, dass es da mittlerweile ein Umdenken gibt." Über die eigene Rolle auf dem Weg zu diesem Umdenken ergänzte Richter: "Ich glaube, dass wir mit unserer Reichweite schon viele dazu bewegt haben, den Schritt zum Doktor zu machen."

Timo Baumgartl während einer Gesprächsrunde nach seinem Comeback (Bild: IMAGO/Matthias Koch)

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Tatsächlich ist offensichtlich, dass die Sinne der Menschen im Profi-Fußball und derer, die diesen verfolgen, in Sachen Hodenkrebs seit der Diagnose von Baumgartl, spätestens aber seit den drei weiteren Fällen im Sommer geschärft sind. Union Berlin etwa bot jüngst für die gesamte Profi-Mannschaft eine Vorsorgeuntersuchung an – ein Angebot, das ausnahmslos alle Spieler auch wahrnahmen. Dazu kommen eine Diskussion, ob solche Untersuchungen auch in den jährlichen Medizinchecks der Profis verpflichtend werden sollten, und eine allgemein größere Plattform für Austausch. "Wir freuen uns, dass die Öffentlichkeit endlich über das Thema Hodentumore spricht", beobachtet auch Mandy Hubatsch Veränderungen.

(K)eine Frage der Männlichkeit

Es ist eine Freude, die die Medizinerin mit dem einstigen Fußball-Profi Marco Russ teilt. Der 37-Jährige war für Eintracht Frankfurt aktiv, als bei ihm im Mai 2015 Hodenkrebs diagnostiziert wurde. Auch Russ machte seine Erkrankung öffentlich, sprach und spricht noch immer über die Stigmata, die mit ihr einhergingen und mögliche Wege, diese abzubauen. "Das Problem ist, dass viele Hodenkrebs mit dem Verlust der Männlichkeit assoziieren", sagt Russ, ehe er diesem Vorurteil vehement widerspricht: "Es herrscht eine falsche Sicht auf die Krankheit. Mit einem Hoden weniger ist man genauso männlich wie mit zwei Hoden, kann genauso Geschlechtsverkehr haben."

Nicht selten werden Profi-Sportler als besonders männlich angesehen - mitunter strahlen sie eine Art "physische Unantastbarkeit" aus. Dass sich nun ausgerechnet diese Sportler verletzlich zeigen und intimste gesundheitliche Probleme offenbaren, ist sehr wertvoll. "Das zeigt, dass die Krankheit vor niemandem Halt macht, vor allem aber, dass man offen mit ihr umgehen kann und sich eben nicht schämen muss", sagt Russ. Auch Dr. Hubatsch zeigt sich beeindruckt, "dass diese vier jungen Männer gerade vorangehen und sagen: 'Guckt mal, wir haben diese Erkrankung, wir sprechen darüber und sind einer wie ihr. Untersucht euch doch auch.'"

Sicherheit dank Vorsorge

Marco Russ, heute als Analyst in Diensten der Eintracht aktiv, nimmt auch in seinem persönlichen und beruflichen Umfeld einen Wandel im Umgang mit dem Thema Hodenkrebs wahr. "Mit den vier Fällen von Timo, Marco und Co. hat sich bei vielen Vereinen und vielen Spielern viel getan", sagt er.
 
Viel, aber noch nicht genug. So spricht sich auch Russ dafür aus, eine Vorsorgeuntersuchung in die erwähnten Medizinchecks aufzunehmen: "Du untersuchst das Herz, machst ein Belastungs-EKG und den ganzen anderen Kram, um bundesligatauglich zu sein. Da sollte man das mit aufnehmen. Das ist kein Aufwand, dauert nur ein paar Minuten, aber du hast erstmal Sicherheit."

Sendung: rbb24, 27.09.2022, 18 Uhr