Jumbo-Vismas Primoz Roglic feiert auf dem Podium.

Giro d'Italia Achterbahnfahrt ins rosa Glück

Stand: 28.05.2023 20:13 Uhr

Primoz Roglic erobert auf der vorletzten Etappe des Giro d’Italia das Rosa Trikot und fährt als König der Rundfahrt in die "Ewige Stadt" ein.

Von Tom Mustroph

Er kann es also doch: entscheidende Bergzeitfahren gewinnen. Am Samstag setzte sich Primoz Roglic auf dem frisch betonierten einstigen Ziegenpfad hoch zum Monte Lussari durch. 40 Sekunden nahm er Geraint Thomas ab. Das reichte, um Rosa zu übernehmen.

"Das ist fantastisch, das gehört zu den Momenten, die man gerne im Leben hat und an die man sich gerne erinnert", sagte Roglic glücklich im Ziel, umringt von seiner Familie und mit Tausenden slowenischen Fans im Feiermodus in seinem Rücken.

Es war für ihn ein zweifacher, nein dreifacher, vielleicht sogar fünffacher Sieg. Er holte sich ja nicht nur diese Etappe, seine erste bei diesem Giro übrigens. Er eroberte auch zum ersten Mal die Gesamtwertung - gerade noch rechtzeitig, um als designierter Sieger über die Straßen Roms zu rollen.

Beim Giro herrscht zwar nicht der klassische Nichtangriffspakt der Tour de France. Bei der wird auf der letzten Etappe der Gesamtführende nicht mehr attackiert. Das Profil der Etappe vom neoklassizistischen Prunkviertel EUR – gebaut in Mussolini-Zeiten mit dem Ziel, die Weltausstellung 1942 zu beherbergen – bis ins antike Herz der "Ewigen Stadt" mit Kolosseum und Kaiserforen gab dem neuen Gesamtzweiten Geraint Thomas allerdings sehr wenig Gelegenheit für eine erfolgversprechende Attacke. Roglic musste nur sturzfrei die römischen Straßen passieren. Was ihm gelang.

Sieg gegen die Vergangenheit

Vor allem jedoch bläst der Sieg am Monte Lussari düstere Geister der Vergangenheit hinweg. Seit 2020 wurde Roglic gern ein Hang zum Versagen in entscheidenden Situationen unterstellt. Im Juli 2020 verlor er beim Bergzeitfahren auf der Planche des Belles Filles als großer Favorit noch das Gelbe Trikot der Tour de France an seinen Landsmann Tadej Pogacar. Damals blockierte sein Körper offenbar aufgrund des großen Drucks, der auf dem ehemaligen Skispringer lastete.

Zudem gab er 2019 durch Zaudern und Zögern schon den Giro d’Italia aus der Hand. Das Pech hielt sich auch gern in seiner Nähe auf. Bei der Tour de France im vergangenen Jahr etwa kugelte er sich bei einem Sturz die Schulter aus. Er renkte sie sich dann auch wieder selber ein, sich dabei auf dem Campingstuhl eines Fans niederlassend. Die Rundfahrt musste er später dennoch aufgeben.

Und auch sein Giro d’Italia 2023 stand nicht unter einem ganz glücklichen Stern. Kurz vor dem Start mussten zwei seiner Helfer aus Krankheitsgründen ausgewechselt werden. Von ihm selbst hieß es während der Rundfahrt, er hätte Covid. Offenbar ein Gerücht. Schrillerweise kursierte im Peloton, der Slowene habe das Gerücht selbst in die Welt gesetzt und vor zu großer Nähe zu ihm gewarnt. Als "Blödsinn" tat es Marc Reef, Roglics sportlicher Leiter, gegenüber der Sportschau ab. Reef meinte nur: "Kann einer mit Covid so stark fahren?"

Gebremst durch Sturzverletzungen

Nun, Roglic fuhr weniger stark als erwartet bei diesem Giro. Nur eine einzige erfolgreiche Attacke lancierte er. Das war auf der 8. Etappe, als sein Hauptgegner noch der später wegen eines nachgewiesenen positiven Covid-Befunds ausgeschiedene Belgier Remco Evenepoel war. Ansonsten fuhr der Slowene auffallend defensiv, sichtlich gehemmt durch die Folgen eines Sturzes auf der 11. Etappe.

Die Vorzeichen standen also gar nicht gut. Und fand nicht auch das entscheidende Bergzeitfahren ganz in der Nähe der Skisprungschanze von Planica statt? Dort stürzte der einstige Juniorenweltmeister im Fliegen über die Bakken so schwer, dass er in den Wintersport nicht mehr zurückfand und von Brettern und Bindung auf Pedalen umstieg, in die die Schuhe freilich auch einrasten müssen.

Wegen der Nähe zur slowenischen Grenze waren auch große Massen von Roglics Landsleuten am Parcours des Bergzeitfahrens aufgereiht. Sie feuerten ihn an, gaben ihm, wie er selbst sagte, "ein paar Watt extra". Der Druck, in diesem "Heimspiel" siegen zu müssen, belastete ihn offenbar nicht, sondern beflügelte ihn eher. Auch das war ein Sieg, ein mentaler Sieg gegen sich selbst.

Kettendrama im entscheidenden Moment

Ganz ohne Drama ging es allerdings auch nicht ab. Im letzten Drittel des Rennens sprang ihm die Kette vom Rad. Roglic blieb ruhig und reparierte den Schaden selbst. "So etwas kann passieren. Ich habe die Kette dann einfach selbst drauf gelegt", sagte er später.

Er ließ sich nicht einmal von der Aufregung seines Mechanikers anstecken. Der hatte schon das Ersatzrad parat von seinem Rücken heruntergenommen und wollte es Roglic übergeben. Begleiter mussten bei dem bis zu 22 Prozent steilen Bergstück auf Motorräder umsteigen und alles Ersatzmaterial eng am Körper bei sich führen. Roglic bevorzugte aber sein altes Rad und flog im letzten Abschnitt förmlich den Berg hinauf.

"Es war eine Achterbahnfahrt. So etwas erlebt man nirgendwo sonst. Als er den Defekt hatte, dachte ich schon, es sei alles vorbei", kommentierte Roglics zweiter sportlicher Leiter Addy Engels das Geschehen.

Mann mit eisernen Nerven

Roglic erwies sich in diesem Moment als sehr elastischer Willenstitan. Er kennt sich aus mit Höhen und Tiefen und auch dem ganzen Gelände dazwischen. "Für ihn war es ein sehr schwieriger Winter. Er hatte keine optimale Vorbereitung. Denn er musste sich lange von seinem Sturz bei der Vuelta erholen", erzählte seine Ehefrau Lora dem Fernsehen.

Umso spektakulärer ist diese Rückkehr. Roglic fügt seiner imposanten Siegesserie von drei Vuelta-Siegen, einem Klassikererfolg bei Lüttich – Bastogne – Lüttich und Olympiagold im Zeitfahren nun auch den Coup bei der Italienrundfahrt hinzu. Zum Grand Tour-Triple fehlt dann nur noch der Toursieg, der 2020 schon so nahe schien.

Nicht nur für Pogacar, den Rivalen aus dem eigenen Land, war das ein Achtungszeichen. Auch gegenüber dem Teamkollegen Jonas Vingegaard, der die jüngste Ausgabe in Frankreich gewann, meldete sich Roglic jetzt aus Italien fulminant zurück. Er hat sein hohes Leistungsniveau behalten und ist nervlich viel widerständsfähiger geworden. Weil er sehr spät zum Radsport kam, stehen ihm trotz seiner 33 Jahre noch ein paar Saisons für weitere Coups zur Verfügung.