Paralympics | Peking 2022 Rote Laternen und Schreie nach Frieden - ein Rückblick auf die Peking-Paralympics

Stand: 13.03.2022 15:04 Uhr

Forster, Walter, Kazmaier, McKeever, Masters, die plötzlich dominierenden Chinesen oder das bravouröse ukrainische Team. Die Paralympics in Peking hatten viele Protagonisten - der Blick zurück in zehn Geschichten.

Von Maximilian Hendel

Das Allererste, was jede Gewinnerin und jeder Gewinner der paralympischen Winterspiele 2022 nach den nun 78 absolvierten Wettbewerben in Peking noch lange vor den Medaillen überreicht bekam, war Maskottchen "Shuey Rhon Rhon" in Plüsch.

Die Figur einer rot leuchtenden Laterne symbolisiere, so die Organisatoren, unter anderem den Wunsch nach mehr Inklusion, mehr Dialog und mehr Verständnis zwischen den Kulturen dieser Welt. Wer brachte "Shuey Rhon Rhon" zum Leuchten? Eine Annäherung in zehn Geschichten.

I. Anna-Lena Forster: Deutsches Aushängeschild reist "glücklich" heim

Auch wenn Anna-Lena Forster "immer versucht hat, den Druck nicht so nah an mich heranzulassen und locker" zu bleiben - spätestens als ihre gelösten Jubelschreie nach dem neuerlichen Paralympicssieg im Slalom der sitzenden Klasse durch den Zielbereich schallten, wurde auch den Letzten klar, welchen Ballast aus der öffentlichen und nicht zuletzt eigenen Erwartungshaltung das deutsche Aushängeschild dieser Spiele in Peking mit sich trug.

"Ich bin einfach echt happy, erleichtert und so froh, dass ich das jetzt hier heruntergebracht habe. Ich kann sowas von glücklich heimreisen", strahlte die 26-Jährige nach einer Woche wiederholt emotionaler Berg- und Talfahrten, an deren Ende vier Medaillen um ihren Hals hingen. Neben dem Slalom holte Forster dank einer furiosen Aufholjagd auch in der Superkombination schon verloren geglaubtes Gold, während es in Abfahrt und Super-G zu Silber reichte. Momoka Muraoka war am abschließenden Samstag erste Gratulantin - Forsters größte Kontrahentin der Zeit am Xiaohaituo Mountain. Die Japanerin gewann dreimal Gold und einmal Silber.

II. Spätes Glück: Bronze für Rothfuss und Rieder

Es brauchte die letzten beiden Wettkämpfe, ehe sich Andrea Rothfuss und Anna-Maria Rieder in Peking doch noch mit jeweils einem Podestplatz in der stehenden Klasse der alpinen Skifahrerinnen belohnten. Vor allem Rothfuss wurde nach der am wenigsten von ihr selbst noch für möglich gehaltenen Bronzenen im Riesenslalom immer wieder von den eigenen Gefühlen überwältigt.

Beim Gedanken an die Medaillenzeremonie "muss ich schon wieder heulen", sagte die 32-Jährige mit brüchiger Stimme und schob später nach: "Wenn ich morgen früh aufwache, muss ich mich erstmal kneifen, um zu wissen, ob das jetzt auch wirklich alles wahr ist." Um einiges gefasster, aber nicht weniger glücklich als die seit 2006 nun 14-fache Medaillengewinnerin Rothfuss quittierte die zehn Jahre jüngere Teamkollegin ihr erstes paralympisches Edelmetall überhaupt: "Ziemlich cool" sei Slalom-Bronze, meinte Rieder.

III. Furore durch die Ski-Nordisch-Youngster

"Das ist ja unglaublich, das ist ja unglaublich – wir haben beide geweint, unglaublich. Das ist ja, das ist ja nicht fassbar, Kind! Menschenskinder, sowas Tolles!", rang Renate Walter am vergangenen Montag am Telefon um Worte.

Die Superlative für das, was ihre Tochter Leonie Maria mit Guide Pirmin Strecker und Zimmernachbarin Linn Kazmaier mit Guide Florian Baumann im Biathlon und Langlauf der sehbeeinträchtigten Frauen abrissen, waren schon nach dem ersten Wochenende längst ausgegangen. Am Ende der neun Wettkampftage in den Bergen nahe Zhangjiakou hatte die erst 15-jährige Kazmaier fünf Medaillen (ein Mal Gold, drei Mal Silber, ein Mal Bronze) und die nur drei Jahre ältere Walter vier (ein Mal Gold, drei Mal Bronze) eingeheimst.

Marco Maier (Silber im Biathlon- und Langlauf-Sprint) sowie in der sitzenden Klasse Routinierin Anja Wicker (Bronze im Biathlon) und der seine Karriere beendende Martin Fleig (Silber im Biathlon) schraubten die Edelmetall-Sammlung der Nordischen Vertreterinnen und Vertreter von Team Deutschland bei diesen 13. Paralympics auf 13 Stück.

IV. Brian McKeever: "Nett von ihm, dass er nun seine Karriere beendet"

2002 in Salt Lake City, als weder Linn Kazmaier noch Leonie Maria Walter schon geboren waren, gewann der sehbeeinträchtigte Brian McKeever seine ersten beiden paralympischen Goldmedaillen im Langlauf. 20 Jahre später wird sich der Kanadier nun vom Leistungssport verabschieden: "Ich bin ich alt und grau, wache mit Schmerzen auf und gehe mit Schmerzen ins Bett. Also ist es an der Zeit.“ Zuvor jedoch hat der mittlerweile 42-Jährige in Peking noch das größtmögliche Ausrufezeichen hinter seine Fabelkarriere gesetzt.

Durch die drei Siege auf der langen Distanz, der mittleren Distanz und im Sprint gewann er die 14., 15. und 16. Goldmedaille. Damit zog McKeever mit dem bis dato alleinigen Rekordhalter Gerd Schönfelder gleich, der zwischen 1992 und 2010 im Ski Alpin ebenfalls 16 Paralympics-Goldrennen vollbrachte. "Ich bin in guter Gesellschaft, er ist ein Topathlet", richtete der Bayer umgehende Glückwünsche über den Sportinformationsdienst aus und ergänzte augenzwinkernd: "Es ist ganz nett von ihm, dass er nun seine Karriere beendet und wir dann zu zweit sind."

V. Die Aigner-Geschwister: Alles, was möglich war

Vor Beginn der Spiele horchte ein Berichterstatter des Wiener "Standard" bei Familie Aigner aus dem niederösterreichischen Gloggnitz nach den Medaillenhoffnungen der vier teilnehmenden Geschwister Veronika, Barbara, Johannes und Elisabeth für Peking nach. "Neun wären möglich", feixte da noch jemand.

Nun ja, was als Jux begann, ist mit dem letzten Alpinrennen der sehbeeinträchtigten Konkurrenz vom Sonntag tatsächlich wahrgeworden. Zwar verpasste Johannes Aigner mit Guide Matteo Fleischmann nach zwei Slalomläufen sein drittes Paralympics-Gold um die Winzigkeit von 28 Hundertstel, aber komplettierte die Familiensammlung. In all seinen fünf Rennen fuhr der 16-Jährige aufs "Stockerl" (ein Mal Gold, zwei Mal Silber, ein Mal Bronze).

Veronika und Barbara wiederum starteten lediglich im Riesenslalom und Slalom. Im Rücken von Guide Elisabeth Aigner gewann Veronika, die sich vor einem Jahr noch die Kreuzbänder in beiden Knien gerissen hatte, beide Rennen souverän. Johannes' Zwillingsschwester Barbara – die von Klara Sykora, der Tochter des ehemaligen Weltklasseslalomfahrers Thomas Sykora, gelotst wurde – holte dabei Bronze und Silber. Mutter Petra Aigner betonte: "Wir sind keine guten Skifahrer, an uns liegt’s schon mal nicht."

VI. Ebba Årsjö: "… weil ich bescheuert bin"

Warum sich Ebba Årsjö wider besseren Wissens und ungeachtet den ausdrücklichen Bedenken ihrer Ärzte und Betreuer am Samstag doch noch mal den Hang hinunter geschmissen hat? "Vielleicht, weil es die Paralympics sind, und es der Slalom ist, meine wichtigste Disziplin", versuchte Årsjö nachher zu erklären, "aber wohl vor allem, weil ich bescheuert bin." Dass die Schwedin dabei nicht nur schon wieder lachen konnte, sondern vorher tatsächlich auch noch den Slalom der stehenden Konkurrentinnen dominierte, grenzte bei der Erinnerung an die Bilder tags zuvor an ein Wunder.

Auf klarer Bestzeit liegend übertrieb die 21-Jährige im zweiten Riesenslalom-Durchgang das Risiko und stürzte heftig. Der Wettkampf blieb minutenlang unterbrochen, bis Årsjö abtransportiert wurde. Sie hatte Glück, großes Glück. Nach Bronze in der Abfahrt und Gold in der Superkombination fuhr sie dann die Slalom-Konkurrenz um Mengqui Zhang aus China und Anna-Maria Rieder in Grund und Boden. "Es war so hart, bis sieben Uhr morgens wusste ich nicht, ob ich an den Start gehe", berichtete Årsjö. Sie überwand die Schmerzen und gab im Nachhinein dennoch zu: "Wahrscheinlich hätte ich nicht starten sollen."

VII. Oksana Masters: Im Rampenlicht abgeräumt

Jede einzelne Biografie der fast 550 Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Paralympics von Peking ist für sich außergewöhnlich. Und trotzdem ragt jene von Oksana Masters noch einmal heraus. Die gebürtige Ukrainerin - mutmaßlich aufgrund der Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit schweren Fehlbildungen ihrer Beine und Hände geboren - wuchs zunächst in einem Waisenhaus auf, ehe sie Mitte der 1990er-Jahre von Gay Masters, einer Professorin für Sprachtherapie, adoptiert und in den USA großgezogen wurde.

Ein Vierteljahrhundert später ist sie dort längst der Para-Sportstar schlechthin und eine Ikone, medaillendekoriert bei Sommer- und Winter-Paralympics. Auch in Peking zog sie das Rampenlicht auf sich. Die 32-Jährige solidarisierte sich öffentlichkeitswirksam mit ihrem kriegsgeplagten Heimatland, forderte zu Spenden auf und spendete selbst. Zudem kritisierte sie wiederholt das Klassifizierungssystem und attackierte die chinesische Langlaufkonkurrenz mit scharfen, aber nicht belegten Dopingvorwürfen. Und sportlich? Übertraf Oksana Masters sich selbst und räumte im Biathlon und Langlauf der sitzenden Klasse großflächig ab – all ihre Wettkämpfe beendete die Ausnahmeathletin nie schlechter als auf Rang zwei, gewann dabei drei Mal Gold und viermal Silber.

VIII. China: Kontroversen um die neue Winterpara-Supermacht

Bis zu den Heimspielen in Peking hatte China genau eine Medaille bei Winterparalympics auf der Habenseite – 2018 in Pyeongchang siegten die Rollstuhlcurler um Skip Haitao Wang in einem Herzschlagfinale gegen Norwegen. Vier Jahre später kommt keine andere der 46 teilnehmenden Nationen auch nur annähernd an die 61 errungenen Medaillen des chinesischen Teams heran. Es folgt die Ukraine mit immerhin 29-maligem Edelmetall.

Ein Aufstieg zur neuen Supermacht des paralympischen Wintersports in Rekordzeit. Die nicht zuletzt auch durch die rigiden Pandemie-Maßnahmen abseits der Weltcups und internationalen Aufmerksamkeit betriebene Aufbauarbeit, unter anderem im größten Behindertensportzentrum der Welt in einem Pekinger Vorort, übertrifft alles Vorstellbare.

"Sie haben Topleistungen gebracht", unterstrich etwa Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS). Der 75-Jährige verwies gerade mit Blick auf die chinesischen Leistungen in den vergangenen neun Tagen jedoch nicht nur einmal unmissverständlich auf das kontroverser denn je diskutierte Thema der Klassifizierung. Es sei "die Achillesferse des internationalen Para-Sports." Eine von Chinas 18 Goldmedaillen gewann übrigens Haitao Wangs Rollstuhlcurling-Equipe – dank eines überlegenen 8:3-Finalsieges über Schweden.

IX. Yifeng Sheng und der "rätselhafte" Herr Scharschukow

Anders als das auf Geheiß des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) kurzfristig doch noch ausgeschlossene russische Para-Team musste Nikolai Scharschukow nicht vorzeitig aus Peking abreisen. Der 61-Jährige repräsentiert nicht sein aktuell einen Angriffskrieg in der Ukraine führendes Heimatland, sondern steht als "neutraler paralympischer Offizieller" an der Bande des chinesischen Para-Eishockeyteams. Es gibt dieses Team erst seit 2017, ein Jahr später übernahm Scharschukow das Traineramt.

Der vorläufige Höhepunkt seines Wirkens war nun die kaum vorhersehbare Bronzemedaille hinter Kanada und den US-Amerikanern, die zum vierten Mal in Serie Gold holten. "New York Times"-Reporter David Waldstein berichtete zuvor, wie er während der ersten Turniertage vergeblich versuchte, mit diesem "rätselhaften" Trainer aus Russland zu sprechen. Scharschukows kanadischer Kollege Ken Babey charakterisierte Spielstil, Organisation und Disziplin der Chinesen als "Reminiszenz an das sowjetische Eishockey". Bis zum Zerfall der UdSSR Anfang der 1990er-Jahre beherrschte deren famose Nationalmannschaft gut drei Jahrzehnte lang die internationale Konkurrenz.

Überragender Akteur der chinesischen Gastgeber, bei denen mit Yu Ying auch die einzige Frau überhaupt bei diesem nur in der Theorie Mixed-Turnier im Kader stand: Yifeng Sheng. Acht Tore und vier Vorlagen gelangen ihm in Peking, an allen vier Treffern des 4:0-Bronzematchs gegen Südkorea war der 23-Jährige direkt beteiligt. Nicht von ungefähr trug Sheng dabei wie immer das Trikot mit der 17 – es war die Nummer des in Russland verehrten Jahrhundertkönners Waleri Charlamow, der 1981 bei einem Autounfall ums Leben kam.

X. Ukraine: Krieg daheim, 29 Medaillen in Peking

Mit einem sowohl für die gut 30.000 Anwesenden im Olympiastadion von Peking als auch für die Millionen weltweiten Fernseh- und Streamzuschauer unüberhörbaren, fast schon flehenden Schrei nach Frieden hatte Andrew Parsons, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), am vorletzten Freitag bei der Eröffnungsfeier diese denkwürdigen Para-Winterspiele eingeleitet.

Adressiert war der Solidaritätsappell in erster Linie an die Ukraine und deren unter teils abenteuerlichen Umständen nach China gereistes Paralympics-Teams. Acht Tage vorher hatte Russlands Staatspräsident Wladimir Putin einen Angriffskrieg auf das Nachbarland losgetreten. "Stop war" und "Peace for Ukraine" – so stand es dann auf den selbstgemalten Bannern der ukrainischen Athletinnen und Athleten in den Katakomben des Stadions. Und unermüdlich riefen sie es.

An diesem Wochenende äußerte sich auch Andrew Parsons wieder über die 20 ukrainischen Athletinnen und Athleten und deren Offizielle. "Dass sie hier auf so hohem Niveau antreten, obwohl ihre Familie und ihr Land angegriffen werden, ist einfach unglaublich", er könne dafür nur "seine Bewunderung ausdrücken", meinte der 45-Jährige. Tags darauf holte die blau-gelbe Langlaufstaffel Gold – zum Abschluss der Wettkämpfe war es die elfte goldene unter insgesamt 29 Medaillen, die das ukrainische Team allesamt im Biathlon und Langlauf gewinnen konnte. Doch anders als die Winter-Paralympics ist der Krieg in ihrem Land noch immer nicht vorbei.