Bei einem Massendoping-Verdacht in China sind auch Superstars betroffen

"Die Akte China" Massendoping-Verdacht in China - WADA handelt nicht

Stand: 23.04.2024 15:53 Uhr

Für 23 chinesische Spitzenschwimmer blieben im Jahr 2021 positive Dopingproben folgenlos – weil die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA nicht handelte. Drei betroffene Athleten wurden nach dem möglichen Vertuschungsfall in Tokio Olympiasieger.

Von Hajo Seppelt, Nick Butler, Lea Löffler und Jörg Mebus

Die Recherche der ARD-Dopingredaktion und der "New York Times" führt direkt ins Reich der Mitte: Es geht um dubiose Vorgänge rund um einen nationalen Wettkampf in China Anfang 2021, bei dem gleich 23 Spitzen-Schwimmerinnen und -Schwimmer positiv getestet wurden. Und um eine mögliche Vertuschungsaktion, bei der die Welt-Anti-Doping-Agentur schweigend zuschaute.

Und es geht um ein Geheimdokument, angefertigt unter Aufsicht des chinesischen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit, das letztlich bewirkte, dass niemand von einem der größten Dopingverdachtsfälle der Sportgeschichte erfuhr.

Es ist jene brisante "Akte China", die dem ARD-Film aus der Reihe "Geheimsache Doping" den Titel gibt. Das Dokument und seine Geschichte haben das Potenzial, den Weltsport noch weit über die Olympischen Spiele im Sommer in Paris hinaus in Atem zu halten. Sie erschüttern den Kampf für sauberen Sport und belasten die WADA schwer.

"Messer im Rücken sauberer Athleten"

Travis Tygart, Chef der US-Anti-Doping-Agentur, sprach von "schockierenden Enthüllungen", von einem "Messer im Rücken aller sauberen Athleten". Der Fall rieche "nach Vertuschung auf den höchsten Ebenen der Welt-Anti-Doping-Agentur".

WADA

David Howman, der ehemalige WADA-Generaldirektor, fürchtet, dass der Kampf für sauberen Sport nachhaltig Schaden nimmt: "Es braucht einfach Vertrauen. Aber wenn Du das verlierst, geht es schnell abwärts mit der Reputation deiner Organisation. Wenn das so ist, wäre es eine Tragödie für die WADA."

David Howman - "Eine Tragödie für die WADA"

Sportschau

Der Reihe nach: Im September 2023 bekam die ARD-Dopingredaktion den 31-seitigen Untersuchungsbericht zugespielt. Verfasst wurde er von der chinesischen Anti-Doping-Agentur CHINADA. Als untersuchende Behörde wurde aber das Ministerium für Öffentliche Sicherheit angegeben, ein Arm der staatlichen Überwachung. ARD und "New York Times" ließen das Dokument durch mehrere Quellen verifizieren.

Superstars betroffen

Dem Bericht zufolge wurden 23 der besten chinesischen Schwimmerinnen und Schwimmer bei dem Wettkampf in Shijiazhuang positiv getestet. Darunter waren laut dem Report die spätere Doppel-Olympiasiegerin Zhang Yufei, die ebenfalls in Tokio siegreichen Wang Shuan und Yang Junxuan sowie Qin Haiyang, der Weltschwimmer des Jahres 2023. Vor allem Qin und Zhang Yufei, die als Mitglied des Nationalen Volkskongresses auch politische Ambitionen hegt, sind in China Superstars.

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Betroffen von positiven Tests waren Anfang 2021 aber auch drei damals minderjährige Athleten. 13 der 23 positiv Getesteten starteten im Sommer 2021 bei Olympia und gewannen in Tokio Medaillen in fünf Wettbewerben (dreimal Gold, zweimal Silber).

Trimetazidin – wie bei Walijewa

Gefunden wurde immer dieselbe Substanz: Trimetazidin, das verbotene Herzmittel, das 2021 Kamila Walijewa zum Verhängnis geworden war.

Das russische Eiskunstlauf-Wunderkind, damals 15 Jahre alt, wurde letztlich nach einem Sportjustiz-Marathon für vier Jahre gesperrt – während sich 2021 die chinesischen Schwimmer nicht einmal verantworten mussten.

Spuren an Dunstabzug, Gewürzcontainern, Abfluss

Dem Bericht zufolge seien die positiven Fälle durch Kontamination zustande gekommen. In einer Hotelküche in Shijiazhuang sei für sämtliche betroffenen Athleten Essen gekocht worden. Aus dem Report geht hervor, dass mehr als zwei Monate später Ermittler die Küche inspiziert und dabei Spuren von Trimetazidin im Dunstabzug, an Gewürzcontainern sowie im Abfluss gefunden hätten.

Einen Beweis für ihre Behauptungen legen die Chinesen in dem Dokument nicht vor. Sie erklären auch nicht, welche Person angeblich in der Hotelküche das verschreibungspflichtige Medikament Trimetazidin bei sich geführt haben soll. Sie gaben trotzdem an, dass das wahrscheinlichste Verabreichungsszenario sei: vom Gewürzcontainer in Pfanne oder Kochtopf – und von dort in die Mahlzeiten der Athleten.

Jedenfalls sei das Dopingmittel ohne deren Wissen in deren Körper gelangt. Die Sportler, so die Forderung der Chinesen, seien deshalb nicht zu belangen. Die WADA akzeptierte das alles offenbar anstandslos. Eine unabhängige Untersuchung vor Ort veranlasste sie nicht.

WADA: "Keine Grundlage", CHINADA-Entscheid anzufechten

Die WADA teilte auf ARD-Anfrage mit, sie habe auf Basis der Analysedaten "keine Grundlage” gesehen, die "Erklärungen der Kontamination anzufechten". Sie stützt das unter anderem auf "niedrige Konzentrationen" und "schwankende Werte" in den Dopingproben. Die WADA sagt, sie habe sich an ihr Regelwerk gehalten.

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Die CHINADA erklärte, dass "keine Anti-Doping-Verstöße" vorgelegen hätten und somit kein Handlungsbedarf bestanden habe.

Der Welt-Schwimm-Verband teilte mit, er sei "zur Verschwiegenheit verpflichtet". Die Vorgänge seien "sorgfältig und professionell" geprüft worden, daher habe man nichts weiter unternehmen müssen.

Die WADA ging nicht auf die Frage ein, ob das Szenario in der Hotelküche realistisch war oder nicht. Klar wurde aus dem Statement, dass die WADA in China keine unabhängige Untersuchung vorgenommen und nur auf Grundlage des CHINADA-Reports entschieden hat, keine Ermittlungen vorzunehmen.

"Extrem unwahrscheinlich"

Der chinesische Untersuchungsbericht liest sich weitgehend wie eine perfekt aufgereihte Kausalkette voller wissenschaftlich logischer Schlussfolgerungen. Das räumt auch der forensische Toxikologe und Pharmazeut Fritz Sörgel ein: "Aber das heißt natürlich noch lange nicht, dass es so gewesen sein muss", sagte er.

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Sörgel hat im Auftrag der ARD-Dopingredaktion die chinesischen Angaben experimentell überprüft. Sörgel sagte nach diversen Experimenten, er halte es für "extrem unwahrscheinlich", dass sich die Ereignisse wie im Bericht beschrieben abgespielt hätten: "Die Konzentrationen, die vom Labor in China angeblich gefunden worden sind, können eigentlich nur so entstanden sein, dass das Dopingmittel schon Wochen vorher verabreicht wurde."

Die positiven Fälle waren nach zweimonatiger Verzögerung, die auf einen lokalen Covid-Ausbruch zurückgeführt wurde, im März 2021 korrekt in das offizielle ADAMS-Meldesystem der WADA eingegeben worden. Anstatt jedoch einen offiziellen Anti-Doping-Regelverstoß (ADRV) zu melden, fand die interne chinesische Untersuchung statt. Auf diese Weise wurden die üblichen Schritte der öffentlichen Bekanntgabe des Falles und der Verhängung einer vorläufigen Sperre vermieden.

"WADA hätte intervenieren müssen"

So nahmen die Schwimmer ab Ende April unbehelligt an den chinesischen Olympia-Ausscheidungen teil. Im Juni wurde beschlossen, die Athleten vollständig freizusprechen, sodass sie bei Olympia in Tokio starten konnten. Die WADA wurde über diese Entscheidung informiert - und legte keinen Einspruch ein. Der Fall wurde nie öffentlich gemacht. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Schwimmer von dem Wettkampf, bei dem sie positiv getestet wurden, disqualifiziert wurden.

Der renommierte Sportrechtler Thomas Summerer bemängelt eklatante Versäumnisse der Anti-Doping-Behörden. "Es lag auf der Hand, dass ein Anti-Doping-Verstoß vorliegt, und so hätte man diesen auch behandeln müssen seitens der chinesischen Anti-Doping-Agentur", sagte Summerer. Vorläufige Sperren, Annullierung der Ergebnisse, Veröffentlichung des Falles - nichts von alledem, was Summerer für obligatorisch hält, ist geschehen. "Die WADA als höchstes Kontrollgremium im Weltsport hätte intervenieren müssen, damit mehr Licht ins Dunkel kommt", sagte Summerer.

"Es scheint etwas im Verborgenen geblieben zu sein"

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