Wendie Renard (r.) und Torschützin Ève Périsset jubeln nach dem Sieg

Halbfinale gegen Deutschland gebucht Frankreich - die große Erlösung

Stand: 24.07.2022 13:41 Uhr

Frankreich hat seinen Fluch bezwungen und ist ins Halbfinale der EM eingezogen. Das Team ist offensiv enorm stark, hat aber auch Schwächen. Die sollte das deutsche Team am Mittwoch kennen.

Von Olaf Jansen

Es war gerade die 62. Spielminute in der Partie zwischen Frankreich und den Niederlanden angebrochen, da machte sich Frankreichs Trainerin Corinne Diacre daran, das Spiel zu entscheiden. Sie wusste es zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht, aber sie tat es. Denn sie brachte Selma Bacha ins Spiel. Die 21-jährige Abwehrspielerin, die als Linksfüßerin in ihrem Verein Olympique Lyon wie auch in der Nationalmannschaft auf der Außenbahn vorgesehen ist, kam für Stürmerin Melvine Malard in die Partie und war plötzlich überall. Und zwar entscheidend.

Bacha kommt und die niederländische Abwehr bricht auseinander

Das sah auch die UEFA so und machte die Einwechselspielerin anschließend zur "Spielerin des Spiels". "Mit ihren geschickten Laufwegen und ihrer Intensität im Angriff wie in der Abwehr veränderte sie das Spiel" - so lautete die Erklärung. Und tatsächlich: Als Bacha sich nach ihrer Einwechslung aufmachte, die linke Bahn für ihre Tempoläufe bis vors gegnerische Tor zu starten, brach die kompakte Defensive der Niederländerinnen auseinander.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich allen voran Stefanie van der Gracht, Dominique Janssen und die unermüdliche Sherida Spitse immer wieder mit letztem Einsatz gegen die viel schnelleren Delphine Cascarino, Kadidiatou Diani und Melvine Malard in den Weg geworfen. Nun aber war das Abwehrbollwerk brüchig geworden. Bacha konnten sie nicht mehr halten. Sie fädelte jene Aktionen ein, die schon in der Nachspielzeit der regulären Spielzeit zu zwei riesigen Chancen für Frankreich geführt hatten. Und sie leistete auch die Vorarbeit zu jener brenzligen Situation, die in der Verlängerung schließlich zum Elfmeter und damit der Entscheidung führte.

Große Genugtuung für eine einstige Stammspielerin

Für Bacha dürfte das auch eine große persönliche Genugtuung sein. Endlich einmal zu glänzen. Auf der großen Bühne. Denn sie hat nicht ganz leichte Zeiten hinter sich. In Ihrem Verein in Lyon, für den sie schon seit ihrer Kindheit spielt, ist sie zuletzt immer öfter ins zweite Glied versetzt worden, was die 21-Jährige auch in der Nationalmannschaft auf die Ersatzbank gespült hat.

Es gab auf ihrer Position in beiden Teams vermeintlich Bessere. Aber Bacha blieb nach dem Abpfiff bescheiden: "Die Mannschaft war heute perfekt", befand sie. Und sie analysierte: "Die Führung hat uns nach vorne gebracht. Sie war entscheidend." In der Kabine feierten die Französinnen später die Befreiung vom Fluch. Endlich standen sie im Halbfinale - nachdem sie bei allen vorangegangenen sechs Auflagen des Kontinentalturniers zuvor im Viertelfinale ausgeschieden waren. "Ich bin enorm stolz auf das Team", meinte nach der Partie Corinne Diacre. "Die Mädels sind ihrer Linie treu geblieben, sie haben immer weiter unseren Plan verfolgt. Das hat am Ende den Ausschlag gegeben."

Frankreich: Vorne hui, aber unkonzentriert

In den Stunden zuvor hatte Frankreich, Deutschlands kommender Gegner im Halbfinale am Mittwoch (27.07.2022, 21 Uhr), seine zwei Gesichter dieser EM gezeigt: Hatte die individuell vor allem körperlich unterlegenen Niederländerinnen mit temporeichem Spiel über die Außen von einer Verlegenheit in die andere gestürzt. Hatte aber auch zum Teil riesige Chancen nicht genutzt.

Immer wieder waren die ultraschnellen Cascarino, Diani und Malard - hervorragend eingesetzt von der umsichtigen Gestalterin Sandie Toletti - in erstklassige Abschluss-Situationen gebracht worden. Sie hatten aber alle Chancen überhastet und zum Teil unkonzentriert vergeben.

Frankreichs Probleme in der Abwehr

Hinzu kamen die immer wieder sichtbaren Probleme in der Abwehr. Wann immer die Niederländerinnen ihre Gegnerinnen in deren Hälfte drängten - es gab da Phasen zu Beginn des Spiels und Mitte der zweiten Hälfte - ließen es Wendie Renard und Co. zu guten niederländischen Abschlüssen kommen. Ein bisschen mehr Entschlossenheit, ein bisschen mehr Fitness vielleicht bei der von einer Coronainfektion noch sichtlich geschwächten Vivianne Miedema - und die Niederlande hätte bei aller Überlegenheit Frankreichs das Spiel gewinnen können.

Dieses Problem Frankreichs, das auch schon in der Gruppenpartie gegen Belgien zu sehen war, dürfte der wichtigste Ansatzpunkt für die deutsche Taktik im kommenden Spiel sein. Im Halbfinale wird es vor allem auf die deutschen Abwehrspielerinnen auf den Außenpositionen ankommen sowie auf die Durchschlagskraft bei Kontern.

"Tolle Einzelspielerinnen"

Die DFB-Mannschaft geht voller Respekt in das Halbfinale der Europameisterschaft gegen Frankreich. "Sie haben wirklich gut gespielt, verdient gewonnen, sie haben tolle Einzelspielerinnen", sagte Joti Chatzialexiou, Leiter der Nationalteams beim DFB, im ZDF-Interview nach dem 1:0-Sieg der Französinnen. "Sie haben eine brutale Qualität, sind vor allem auf den Außenbahnen richtig gut. Dass es so lange gedauert hat, hat mich überrascht."

"Es ist ein tougher Gegner, wir wissen, das Frankreich eine enorme Qualität hat in den Umschaltmomenten, fantastische Einzelspielerinnen mit ganz viel Tempo", sagte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg. "Wir müssen versuchen, ihnen wenig Räume zu geben. Wir werden am Mittwoch alles, was in uns steckt, geben. Ich glaube, dass auch Frankreich Respekt hat vor unserer gezeigten Leistung. Von daher wird's ein Spiel auf Augenhöhe."

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 15.07.2022 | 20:15 Uhr