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Lutz Wagner im Sportschau-Interview "Lange Nachspielzeit? Nur, wenn es wirklich sinnvoll ist"

Stand: 03.12.2022 11:46 Uhr

Schiedsrichter-Experte Lutz Wagner zieht im Sportschau-Interview seine WM-Zwischenbilanz - über lange Nachspielzeiten, falsche VAR-Entscheide und die erste Frau an der Pfeife.

Sportschau: Herr Wagner, ist es aus Schiedsrichter-Sicht bisher eine gute Weltmeisterschaft?  

Lutz Wagner: "Es gab teilweise sehr gute Leistungen, aber es geht insgesamt durchaus noch besser. Aber das verwundert auch nicht, denn in der Vorrunde einer WM pfeifen Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen aus aller Herren Länder, die oft zum ersten Mal mit den jeweiligen Video-Assistenten zusammenarbeiten. Deshalb gab es manchmal Abstimmungsprobleme, mal wurde zu viel interveniert, mal zu wenig. Wenn es in der K.o.-Runde feste Teams gibt, erwarte ich eine weitere Steigerung der Qualität."

Wie können trotz VAR so krasse Fehlentscheidungen wie das aberkannte Tor von Ronaldo und der nicht minder strittige Elfmeter gegen Ghana oder der nicht gegebene Elfmeter für Kanada nach dem Foul des Belgiers Axel Witsel passieren?  

"Bei der Witsel-Entscheidung gab es auch ein nachvollziehbares Argument gegen den Elfmeter, weil eine Bewegung des Angreifers in den Laufweg von Witsel vorlag. Bei Ronaldo waren in der Tat beide Entscheidungen falsch, es gab auch ein geahndetes Handspiel bei Portugal gegen Uruguay, das klar falsch war, und Probleme bei Frankreich gegen Tunesien - da hoffe ich wie gesagt in der K.o.-Runde auf Besserung."   

Frankreich hat Protest eingelegt, weil nach Schlusspfiff das Ausgleichstor gegen Tunesien nach VAR-Intervention wieder aberkannt wurde. Mit welchen Erfolgsaussichten?  

"Das wird spannend. Es ist so: Wenn ein Spiel tatsächlich abgepfiffen wird und der Schiedsrichter noch auf dem Platz ist, ist durchaus ein VAR-Eingriff noch möglich. Für mich sah es aber so aus, als habe der Schiedsrichter das Spiel zunächst mit einem Anstoß nach dem Tor fortgesetzt. Wenn das der Fall ist, war der VAR-Eingriff fehlerhaft, weil wie gesagt bereits eine Spielfortsetzung vorlag. Es kamen dann aber sehr schnell noch mehrere Pfiffe des Schiedsrichters hinterher, die dann wohl eine Verlängerung der Unterbrechung bedeuten sollten - da wird es jetzt bei der Bewertung des Protests darauf ankommen, was er zu diesen Pfiffen für eine Erklärung abgibt."  

Wie waren Sie mit dem deutschen Schiedsrichtergespann um Daniel Siebert beim Duell zwischen Australien und Tunesien zufrieden?  

"Es war ein Klasseeinstand von Daniel Siebert und seinem ganzen Team. Dass er jetzt ein zweites Vorrundenspiel erhält, Uruguay gegen Ghana mit einer sehr großen sportlichen Bedeutung, ist eine Auszeichnung und lässt hoffen, dass es für unser Gespann bei dieser WM noch sehr weit gehen kann."

Warum hat es so lange gedauert, bis mit der Französin Stéphanie Frappart endlich die erste Frau ein WM-Spiel leiten durfte?  

"Es gab ja in der Vergangenheit nicht so viele Schiedsrichterinnen, die auf diesem absoluten Top-Niveau gepfiffen haben. Vor einem WM-Einsatz muss natürlich jeder auch Erfahrungen bei Länderspielen oder in der Champions League gesammelt haben. Aber man darf anmerken: Es hätte mit etwas mehr Nachdruck von den FIFA-Entscheidern auch schon deutlich früher dazu kommen können."

Die auffälligste Veränderung bei den Spielleitungen dieser WM sind die extrem ausgedehnten Nachspielzeiten. Finden Sie die sinnvoll, und kann sich die Bundesliga darauf nun auch einstellen?  

"Ich bin da sehr praxisorientiert: Eine ewig lange Nachspielspielzeit bei einem Spielstand von 7:0 für Spanien gegen Costa Rica ist nicht im Sinne des Fußballs und der Fans. Aber wenn es um offensichtliches Verzögern geht, wenn in der Nachspielzeit noch drei Spieler eingewechselt werden und einfach Zeit vergeudet wird - dann bitte unbedingt auch eine lange Nachspielzeit. Für die Bundesliga setze ich da auf einen Lerneffekt, nämlich dass sich die Zeitschinderei dann einfach nicht mehr lohnt, weil die Minuten hinten angehängt werden."  

Die auf den Anzeigetafeln gezeigte Grafik, die die Abseitsstellung klarstellt, ist eine große Hilfe für Fans im Stadion und am Fernseher. Ein Muss für die Bundesliga?  

"Wenn man Technik sinnvoll einbinden kann - sofort! Aber auch da sehe ich noch Optimierungspotenzial, denn es darf nicht acht bis zehn Minuten dauern, ehe so eine Grafik dann auch eingeblendet wird."

Wie lange wollen oder sollen - wenn es eine FIFA-Anweisung gibt - die Schiedsrichter noch so kolossal damit nerven, jedem Torhüter vor einem Elfmeter die Regel zu erklären? Glaubt wirklich irgendjemand, dass die Keeper noch immer nicht wissen, dass sie mit einem Fuß auf der Linie stehen müssen?

"Ich gebe Ihnen recht, das nutzt sich ab. Genauso wie vor jedem Eckball zu den Spielern zu gehen und ihnen zu erklären, dass sie sich nicht am Trikot ziehen sollen, weil es sonst Strafstoß geben kann. Das kann man als erfahrener und guter Schiedsrichter auf jeder Seite genau einmal kurz und knapp machen - und dann lässt man eben Taten folgen."