Turnen Sexualisierung im Sport: "Jede Athletin soll selbst entscheiden"

Stand: 05.05.2022 20:05 Uhr

Ihr Auftritt löste im vergangenen Jahr weltweit eine Debatte aus: Anstatt im üblichen knappen Outfit trat Sarah Voss bei der EM in einem Ganzkörperanzug an. Heute erhält die Turnerin für ihr Engagement den Fair-Play-Preis des Deutschen Olympischen Sportbunds.

Turnerin Sarah Voss spricht im Interview mit der Sportschau über Sexualisierung im Sport, den Weg zum Ganzkörperanzug bei der EM 2021, den Fair-Play-Preis des DOSB und über die schwierige Zeit in der Corona-Pause.

Sportschau: Herzlichen Glückwunsch zum Fair-Play-Preis des DOSB. Welche Bedeutung hat dieser Preis für Sie?

Sarah Voss: Der Preis hat eine große Bedeutung für mich. Das liegt auch an dem großen Wort, was darin mitschwingt, nämlich Fair Play. Das ist sportartenübergreifend und es ehrt mich natürlich sehr, dass ich die Auszeichnung stellvertretend für unser restliches Team entgegennehmen darf.

Wie kam es dazu, dass Sie und ihre Kolleginnen Elisabeth Seitz sowie Kim Bui bei der EM mit einem Ganzkörperanzug antraten?

Voss: Das war tatsächlich ein längerer Prozess. Das erste Mal darüber gesprochen haben wir im Trainingslager. Dort ist es üblich, ab und zu ohne Hose zu turnen. Einfach um mehr Gespür für den Wettkampf zu bekommen. Doch dieses Mal äußerten ein paar Mädels ihr Unbehagen.

Unsere damalige Bundestrainerin hat uns daraufhin auf eine Regelung aufmerksam gemacht, nach der seit 2012 eine lange Hose im Wettkampf erlaubt ist, solange sie zum Anzug passt. Nach vielen Gesprächen haben wir dann begonnen, mit unserer Schneiderin die Anzüge selbst zu entwerfen. Das Ergebnis waren schließlich unsere Prototypen, die wir bei der EM 2021 präsentieren durften.

"Die Rückmeldungen waren überwiegend positiv"

Wie waren die Reaktionen anderer Turnerinnen auf den Ganzkörperanzug? Bis jetzt ist das deutsche Team das einzige, das den langen Anzug in internationalen Wettkämpfen trägt.

Voss: Das stimmt. Aber die Rückmeldungen waren überwiegend positiv, vor allem was das Design angeht, und dass wir generell den Schritt gewagt haben. Es gab trotzdem Mädels, welche die Idee sowie unsere Anzüge zwar super schön fanden, sie jedoch persönlich nicht tragen würden. Und das ist okay so.

Wir wollen mit dem Anzug lediglich eine weitere Möglichkeit bieten, auch für den Breitensport, es soll aber jede für sich selbst entscheiden, wie sie sich am wohlsten fühlt. Wir hoffen natürlich trotzdem, dass die Mädels, die Gefallen an dem Anzug finden, sich auch häufiger trauen, ihn zu tragen. Jetzt sind einfach noch die Hemmungen groß, da es was anderes ist.

Sie sind mit dem ersten Platz beim Weltcup in Baku sehr erfolgreich in diese Saison gestartet und haben sich 2021 für die Olympischen Spiele qualifiziert. Dennoch beschreiben Sie die vergangenen zwei Jahre als schwierig. Woran lag das?

Voss: Aufgrund der Corona-Pandemie sind nicht nur viele Wettkämpfe ausgefallen, auch das Training gestaltete sich sehr schwierig. Zwar genossen wir als Kaderathleten Privilegien, aber trotzdem war die Zeit sehr krass. Für mich persönlich, weil mir die Unterstützung meines Teams auf dem Weg zu den Spielen total gefehlt hat.

Als Tokio dann noch um ein Jahr verschoben wurde, war das abermals ein Schlag in die Magengrube. Noch ein weiteres Jahr irgendwie die Leistung aufrechtzuerhalten, die man sich jahrelang aufgebaut hat, war wirklich schwer.

Aber auch andere Dinge abseits des Sports nahmen auf einmal einen viel höheren Stellenwert ein als das Turnen. Da war es natürlich deutlich schwieriger, immer Höchstleistungen zu bringen. Aber Olympia war ein tolles Erlebnis, dennoch habe ich mir danach erst einmal ein bisschen Zeit genommen und die vergangenen Jahre Revue passieren lassen. Daraus habe ich neue Kraft sowie Mut geschöpft, um jetzt bis Paris 2024 noch einmal richtig Gas zu geben.

Mit Gerben Wiersma gibt es seit diesem Jahr einen neuen Bundestrainer für die Frauen. Allerdings ist diese Personalie aufgrund früherer Ermittlungen durch den niederländischen Verband, die jedoch eingestellt wurden, umstritten. Wie läuft die Zusammenarbeit bisher mit ihm?

Voss: Ich bin sehr zufrieden. Vor allem, weil er ein sehr kommunikativer Mensch ist und auf uns Athletinnen eingeht. Wir haben viel über die vergangenen Monate und Jahre gesprochen – was verbessert werden kann, welche Wünsche wir haben. Aber natürlich ging es dabei auch um seine Vergangenheit, mit der er sehr offen umgeht.

Als er eingestellt wurde, hatten wir als Olympia-Team sowie der erweiterte Kreis ein Mitbestimmungsrecht, haben offen mit ihm über die Ermittlungen, von denen er ja freigesprochen wurde, geredet und unsere Sorgen geteilt. Wir sind aber der Meinung, dass wir sehr gut zusammenarbeiten und, wenn es so weitergeht, Großes erreichen können.

"Ab einem gewissen Alter sind sie zudem vielleicht viel mehr dazu bereit, Verantwortung zu übernehmen"

Im Turnen ist auch immer wieder das junge Alter der Athleten ein Thema. Was halten Sie von der Forderung, bei Olympischen Spielen ein generelles Mindestalter einzuführen?

Voss: Zumindest im Turnen gibt es das ja bereits, wir können erst ab 16 Jahren an Olympia teilnehmen. Ich finde es aber generell wichtig, dass junge Athletinnen die Zeit bekommen, die sie brauchen, um sich vollständig zu entwickeln und in einem Umfeld aufwachsen, dass sie zwar fordert, aber nicht überfordert.

Das Heraufsetzen des Mindestalters auf 18 Jahre böte natürlich auch die Möglichkeit, unseren Sport von Beginn an nachhaltiger zu gestalten. Dass Athletinnen nicht schon mit 16 ihren Leistungshöhepunkt erreichen, sondern erst später. Ab einem gewissen Alter sind sie zudem vielleicht viel mehr dazu bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Denn in jungen Jahren erblickt man vielleicht nicht immer das große Ganze. Doch je älter, desto reflektierter wird man. Und davon kann man auf jeden Fall profitieren.

Das Gespräch führte Katarina Schubert.