Tennis | ATP Masters Madrid Zverev vor Masters in Madrid: Das verloren gegangene Selbstverständnis

Stand: 02.05.2022 08:20 Uhr

Einen Grand-Slam-Sieg und der Spitzenplatz in der Weltrangliste: Mit diesen selbst ausgerufenen Zielen für 2022 übte Alexander Zverev großen Druck aus – und scheiterte daran bislang krachend. Das Masters-Turnier in Madrid, das er 2021 gewann, kommt zur Unzeit.

Von Jannik Schneider

Alexander Zverev hat als absoluter Weltklasse-Spieler in den vergangenen Jahren ein großes Team um sich geschart. "Nicht alle davon sind sichtbar, helfen aber im Hintergrund, um ihn professioneller aufzustellen", sagte Bruder Mischa Zverev im Januar bei einem Frühstück in Melbourne. Ein Beispiel für die Aussage: Seit geraumer Zeit und ziemlich regelmäßig erscheinen professionelle, kurzweilige und im Stile der Plattform geschnittene Videos (sogenannte Reels, Anm. d. Red.) auf Instagram.

So sahen seine mittlerweile rund 1,5 Millionen Follower komprimiert zusammengefasst und zugeschnitten bei einer Trainingseinheit vor den BMW Open in München vor Wochenfrist einen fokussierten Zverev, der hart an seinen Grundschlägen und vor allem der Vorhand feilt und in den Pausen bestens gelaunt mit seinem Team flachst.

Auftaktpleite in München gegen Youngster Rune

In einem klassischen Fall von "Instagram vs. Realität" bekamen Zaungäste auf der schönen und kuscheligen weil engen Klubanlage am Aumeister in der bayrischen Landeshauptstadt in den Tagen vor seiner niederschmetternden Auftaktpleite gegen den talentierten und blutjungen Dänen Holger Rune (18) aber einen ganz anderen Alexander Zverev zu Gesicht: Ruhig, in sich gekehrt, grimmig, mit seinem Trainingsspiel und vor allem der Vorhand hadernd.

Den Vorschlägen seines neuen Trainers Sergio Bruguera lauschte er meist mit einer destruktiven Körpersprache. Die änderte sich erst, wenn das Training vorbei war und er vornehmlich jungen Fans geduldig Autogramm- und Fotowünsche erfüllte.

Fragezeichen hinter seiner Leistungsfähigkeit

Der beste deutsche Tennisspieler trägt mit so ziemlich jeder Faser seines Körpers eine Last mit sich herum. Zum Start des für Zverev so wichtigen Masters-Turnier in Madrid (Zverev hat als Titelverteidiger 1.000 Punkte zu verteidigen, Anm. d. Red.) und wenige Wochen vor den French Open gibt es Fragezeichen hinter seiner Leistungsfähigkeit.

Zverev ist vor zwei Wochen 25 Jahre alt geworden. Der ehrgeizige Profi hat es nie ganz offensichtlich ausformuliert, aber er hinkt seinen Ansprüchen nicht erst diese Saison hinterher. Nach einer überragenden zweiten Jahreshälfte 2021 mit vier Turniersiegen, darunter die viel umjubelte Goldmedaille bei den Olympischen Spielen und der zweite Erfolg beim Jahresendturnier der besten acht Spieler, rief Zverev für 2022 den lange ersehnten ersten Grand-Slam-Titel aus und folgerichtig auch den Platz an der Sonne der Weltrangliste.

Es waren zu diesem Zeitpunkt keine übertriebenen Ziele, aber der so hart wie kaum ein zweiter schlagende Rechtshänder hat im Übergang zur neuen Saison sein Selbstverständnis verloren. Das unerwartete, klare und emotionslose Achtelfinalaus bei den Australian Open gegen Denis Shapovalov hängt Zverev bis heute nach. Danach beschädigte ein folgenschwere Ausraster von Acapulco sein Image wiederholt.

Anschließend spielte er Davis Cup, kränkelte bei den wichtigen Mastersevents in den USA und kämpfte sich mit wechselnden Leistungen aber kämpferischen Auftritten trotz Oberschenkelblessur ins Halbfinale seines Heimturniers in Monte Carlo – für Zverev und seine Fans nicht genug: "Ich habe dieses Jahr angefangen mit so vielen Chancen, Nummer eins zu werden. Das war immer in meinem Kopf. Ich habe mich extrem unter Druck und nicht frei gefühlt", erklärte Zverev am Rande des Events in München. "Ich bin gerade 25 Jahre alt geworden. Ich gehe in die Richtung, wo der Höhepunkt meiner Karriere sein sollte." In München sollte die Wende folgen.

Rune aber legte Zverevs spielerische Schwachpunkte am Mittwoch gnadenlos offen: viel zu fehleranfällig auf der Vorhand, unbalanciert beim Erlaufen von Stoppbällen und mental nicht voll auf der Höhe.

Zu Zverevs guten Eigenschaften gehört es, zu seinen Leistungen zu stehen. In München nannte er diese "bodenlos" und entschuldigte sich tief geknickt mit den Händen im Gesicht bei Turnier und Fans für das frühe Aus, das im Laufe der Woche zumindest etwas relativiert wurde. Gegner Rune gewann das Turnier am Sonntag, nachdem er ohne Satzverlust ins Finale gestürmt war; zudem soll Zverev, der direkt von München nach Madrid flog, weiter ein leichter Infekt plagen.

Weitere Baustellen

Außer körperlichen Problemen gibt es wie so oft andere Baustellen in Zverevs Leben. Noch immer laufen mehrere Rechtstreits, unter anderem gegen die Herausgeber der journalistischen Artikel, die Zverev häusliche Gewalt gegen eine seiner Ex-Freundinnen vorwarfen. Zu Teilen dieser Vorwürfe, etwa am Rande des ATP-Turniers in Shanghai 2019, gibt es eine offizielle ATP-Untersuchung. Die soll, so war in München zu hören, sehr zeitnah abgeschlossen werden. Mehr als ein dutzend Beteiligte sind nach Sportschau-Informationen befragt worden – darunter auch Personen, die mit Zverev damals in Asien weilten. Auch die Ex-Freundin soll bereit sein, auszusagen. Seit Herbst 2020 stehen die Vorwürfe mehreren energischen Dementis Zverevs gegenüber.

Sportlich hat er in den USA den spanischen Nationaltrainer Sergi Bruguera probeweise in sein Team geholt. Der French-Open-Sieger von 1993 und 94, das bestätigte das Team der Sportschau, bleibt auf jeden Fall bis zum Ende der Sandplatzsaison, feilte mit Zverev in München vor allem an der Vorhand. Auch kleine Veränderungen benötigen auf Profilevel Zeit. Die "Bild am Sonntag" berichtet zudem, dass Vater Alexander Zverev senior wieder aktiv auf den Trainingsplatz zurückkehrt. Der Haupttrainer hatte sich im Herbst eine Auszeit genommen. Für das wichtige Event in Madrid kann Zverev sicher jede Hilfe benötigen.