Tennis-Grand-Slam-Turnier Angelique Kerber - Wimbledon ist nicht Bad Homburg

Stand: 28.06.2021 08:44 Uhr

Nach ihrem überraschenden Erfolg beim neuen WTA-Turnier in Bad Homburg ist Angelique Kerber vor dem Wimbledon-Start am heutigen Montag plötzlich wieder im erweiterten Favoritinnenkreis angekommen. Im exklusiven Gespräch mit sportschau.de spricht die Siegerin 2018 über Anspruch, Wirklichkeit und ein mögliches Karriereende.

Von Jannik Schneider

Im offiziellen Turniermagazin der Bad Homburg Open vor Wochenfrist verriet ein Portrait über Angelique Kerber ein Kuriosum am Ende der Partynacht nach dem legendären Wimbledontitel 2018. Nachdem der Kerber-Tross das gemietete Haus in London verlassen hatte, wurde plötzlich Kerbers Siegertrophäe (seit 1886 wird die historische Rosewater Dish verliehen) vermisst. Kerbers Team hatte den silbernen Präsentierteller in der Hektik stehengelassen; die Gastgeberin gab jedoch rasch Entwarnung.

Fast drei Jahre später kann sich Angelique Kerber ein Schmunzeln nicht verkneifen, als sie im Gespräch mit der Sportschau mit der Anekdote konfrontiert wird. "Die Schale ist zum Glück längst in Sicherheit an einem schönen Platz zu Hause mit den beiden anderen Grand-Slam-Trophäen", sagt Kerber. Zu Hause ist für die gebürtige Bremerin seit Jahren Puszczykowo  - die polnische Heimat ihrer Großeltern, zehn Kilometer südlich von Posen. Dort lebt und trainiert Kerber in der Regel.

Wer die mittlerweile 33-Jährige vergangene Woche in Bad Homburg beobachtete, bemerkte, dass sich die immer noch beste deutsche Tennisspielerin auch in der Wahlheimat ihres Managers Aljoscha Thron pudelwohl fühlte. Zusammen mit Turnierdirektor Thron organisierte Kerber als Botschafterin nicht nur fleißig mit, sondern gewann nach fünf Siegen in Serie ihren ersten WTA-Titel seit Wimbledon 2018.

Somit hat sich Kerber – unfreiwillig und unerwartet – in den erweiterten Favoritinnenkreis geschoben. Im selbsternannten Spätherbst ihrer sportlichen Laufbahn bietet das Wimbledonturnier 2021 eine der letzten Gelegenheiten auf ein sehr gutes Grand-Slam-Ergebnis. Doch nach drei durchwachsenen Jahren muss die Frage erlaubt sein: Was ist denn sehr gut für die dreimalige Majorsiegerin?

Kein Grand-Slam-Viertelfinale mehr seit Wimbledon 2018

Seit ihrem letzten großen Erfolg hat Kerber bei zehn Grand-Slam-Teilnahmen fünfmal in der ersten Runde verloren und lediglich dreimal das Achtelfinale erreicht. Als das prestigeträchtigste Turnier des Jahres vor der weltweiten Pandemie 2019 letztmalig stattfand, war das Turnier für die Titelverteidigerin bereits in Runde zwei beendet. Der hart erarbeitete Halbfinalerfolg über die zweimalige Wimbledonsiegerin Petra Kvitova  in Bad Homburg war der erste Erfolg über eine Top-10-Spielerin seit zwei Jahren (Simona Halep, Eastbourne 2019).

Kerber bremsten in den vergangenen Jahren hartnäckige Oberschenkel- und Fußverletzungen aus, die sie nicht richtig oder zu spät auskurierte, weil sie spielen wollte. Hinzu kamen wenig erfolgreiche Trainerengagements mit Rainer Schüttler und Dieter Kindlmann.

Kerber stapelt vor Wimbledon tief

Nach der Wiedervereinigung mit Ex-Trainer Torben Beltz hatte sie nach einer guten Saisonvorbereitung Pech. Nach positiven Corona-Fällen auf ihrem Flug nach Melbourne musste Kerber in zweiwöchige Hotelquarantäne ohne Training – die hart erarbeitete Form war dahin; es folgte das Aus in Runde eins. Die ohnehin ungeliebte Sandplatzsaison anschließend verlief durchwachsen. Auch in Paris war nach dem Auftaktmatch Schluss.

Auch deshalb hält Kerber den Ball vor Wimbledon trotz der tollen Leistungen in Bad Homburg flach. "Ich konnte in den vergangenen Jahren natürlich sehr viel Erfahrung sammeln, wie ich mit der Erwartungshaltung von außen, aber auch mit meiner eigenen umzugehen habe", erklärt Kerber. Man stehe als Tennisprofi jede Woche unter Beobachtung. "Manchmal gab es Schlagzeilen, manchmal nicht. "Man muss die Stärke haben, die Erwartungshaltung auch mal auszublenden und nicht so an sich ranzulassen."

Kerbers Credo für Wimbledon: so viel wie möglich ausblenden. Fragen nach einem möglichen Drittrundenduell gegen Serena Williams, die anders als Kerber nicht bei den Olympischen Spielen antreteten wird, waren nicht möglich. "Ich habe nur die erste Runde nachgeschaut und möchte bitte auch nicht mehr wissen", sagt Kerber höflich aber bestimmt. Es sei ihr wirklich egal, gegen wen sie spiele, auch ob die Auslosung tough sei oder nicht. "Ich muss mein Spiel durchbringen, aggressiv spielen. Ich weiß, wie es geht. Ich habe das in Bad Homburg gezeigt. Aber ich werde mich jetzt nicht in London als Favoritin hinstellen. Für mich zählt jeder Tag und jede Runde." Am Dienstag startet Kerber gegen die weitestgehend unbekannte Serbin Nina Stojanovic. Für die 24-Jährige ist es die Premiere in Wimbledon.

Kerbers Renaissance in Bad Homburg

Der Konkurrenz ist längst aufgefallen, welche Renaissance Kerber vor Wochenfrist feierte. Besonders beindruckend waren die beiden Dreisatzsiege an einem Tag gegen die talentierte Amerikanerin Amanda Anisimova und die auf Rasen immer stark aufspielende Petra Kvitova. "Das ist definitiv eine der besten Vorbereitungen auf Wimbledon, die ich in meiner Karriere je hatte. Ich wollte möglichst viele Matches auf Rasen und damit einhergehend Selbstvertrauen sammeln. So viele Matchsiege in Serie hatten mir zuletzt gefehlt. Dementsprechend tut das gut", erklärt Kerber, deren Einzelbilanz vor Bad Homburg in 2021 9:10 lautete.

Das obere Turniertableau, in dem sich Kerber und Williams befinden, ist, wie so oft, recht offen. Im gesamten Feld tummeln sich 15 Grand-Slam-Siegerinnen – obwohl Simona Halep und Naomi Osaka abgesagt haben. An einem guten Rasentag kann Kerber mit dem Selbstverständnis aus Bad Homburg noch jede Gegnerin schlagen. Wie oft sie das auf dem "Heiligen Rasen" in Serie abrufen kann, bleibt abzuwarten.

Die noch größere Frage ist: Wie oft wird Kerber noch in Wimbledon antreten? "Gedanken an das Karriereende habe ich jetzt in diesen Tagen gar nicht. Ich werde da ganz klar meinem Herzen folgen. Momentan habe ich Spaß, und die Leidenschaft ist da, wie man in Bad Homburg gesehen hat. Genau für diese Momente spiele ich noch. Dafür trainiere ich immer noch sehr hart", entgegnet Kerber.