Tennis | ATP Finals Tennisprofi Zverev vor ATP Finals - körperlich und mental am Limit

Stand: 14.11.2021 09:32 Uhr

Am Sonntag (14.11.2021) startet Alexander Zverev gegen Lokalmatador Matteo Berrettini in das Jahresendturnier der besten acht Spieler in Turin. Der 24-Jährige wirkt nach einem sportlich herausragenden, aber privat schwierigem Jahr ausgelaugt.

Von Jannik Schneider (Turin)

Alexander Zverev hatte beim Training mit Bruder Mischa in der Pala Alpitour zu Turin am Freitag einen ganz besonders interessierten Zuschauer. Novak Djokovic lehnte am Geländer des VIP-Bereichs und blickte von der Veranda aus auf den Trainingscourt eins hinunter.

Gegen Ende der Übungseinheit trafen sich die Blicke zwischen Deutschlands erfolgreichstem Spieler seit Boris Becker und dem vielleicht besten Profi aller Zeiten, der das Jahr zum bereits siebten Mal als Nummer eins der Welt beendet: "Trainierst du für das Training mit mir morgen?", fragte der Serbe mit einem breiten Grinsen. Zverev lächelte zurück; brachte aber nur ein: "Was immer du sagst, Champ", zurück. Dann drehte er sich zurück auf den Court und retournierte einen weiteren Aufschlag seines zehn Jahre älteren Bruders.

Diese Szene und das gesamte Training stehen sinnbildlich für die Situation Alexander Zverevs kurz vor den ATP Finals, dem für Deutschlands Nummer eins letzten Turnier des Jahres. Zum fünften Mal in Serie hat sich der Rechtshänder für das sehr gut in Szene gesetzte Event der besten acht Spieler des Jahres qualifiziert – ein Beweis für Zverevs brutale Konstanz auf den Turnieren dieser Welt. Die Saison 2021 hat aber Spuren hinterlassen – physisch nach ausufernd guten Leistungen, die einfach Kraft kosten. Über das Sportliche hinaus schwelen weiterhin schwere Vorwürfe der häuslichen Gewalt gegen Zverev.

Zverev: Keiner hat dieses Jahr mehr Turniere gewonnen

Sportlich könnte es nicht viel besser laufen: Fünf Turniere hat Zverev gewonnen; darunter die Olympischen Spiele und zwei Masters-Events. Niemand gewann auf dieser Ebene mehr Veranstaltungen. Der ganz große Coup fehlt noch. Bei den Grand-Slam-Turnieren von Paris und New York stoppten ihn Stefanos Tsitsipas und eben Djokovic nur knapp vor dem Finale.

Sportlich ist es die beste Saison des gebürtigen Hamburgers, der sich am körperlichen Limit bewegt. Nach acht Siegen in Serie und dem Turniersieg in Wien war die Nummer drei der Welt in Paris vor Wochenfrist chancenlos gegen Daniil Medvedev (2:6, 2:6).

"Ich habe danach mal fünf Tage gar nichts gemacht. Das war auch mal nötig, in Paris war ich platt", erklärte Zverev am Rande des Events in Turin. Jetzt gehe es wieder deutlich besser – dennoch hielt der 18-malige ATP-Turniersieger fest: "Ich bin fertig, ich bin müde. Wir spielen elf Monate im Jahr, aber wenn du das ganze Jahr auf hohem Niveau spielst und Matches gewinnst, ist das normal." Er sei relativ froh, wenn er den Tennisschläger nach Turin mal zwei Wochen aus der Hand legen und Urlaub machen könne.

Erstaunlich energetisch im Training

Umso erstaunlicher war es, zu beobachten, wie energetisch Zverev dann am Samstag mit Djokovic in Italiens größter Indoorhalle auf dem wunderschönen Centre Court auftrat, den Branchenprimus wieder und wieder in unmenschlich lange Trainings-Ballwechsel verstrickte. Die Schuhe quietschten, die Schläge schallten, die Spieler fluchten, neckten und lachten nach knappen Ballwechseln. Zverev agiert weiterhin auf sportlich allerhöchstem Niveau – und offenbar stecken irgendwo noch Kraftreserven für die anstehenden Gruppenspiele.

Zverev trifft am Sonntag ( 21 Uhr) auf den Italiener Matteo Berrettini, der bei einer erlaubten Auslastung von 60  Prozent das Gros der mehr als 7.000 Zuschauer auf seiner Seite haben wird. "Ich bin ein Fan davon, wenn Leute gegen mich sind. Ich mag das sogar", erklärte Zverev. Doch auch bei den weiteren Gruppenspielen gegen Medwedew und den polnischen Debütanten Hubert Hurkacz sowie generell im Turnier dürfte er nicht der Fanliebling der breiten Masse sein.

Schwere Vorwürfe häuslicher Gewalt

Vor allem in den sozialen Medien erhält Zverev seit mehr als einem Jahr konstanten und heftigen Gegenwind. Eine seiner Ex-Freundinnen, die russische Fotografin Olya Sharypova, hat ihn in zwei Longreads in den amerikanischen Magazinen "Raquet" und "Slate" im Herbst 2020 und 2021 vor den US Open schwer beschuldigt. Es geht um physische und psychische Gewalt.

Einstweilige Verfügung durchgesetzt

Nach langem Schweigen hat sich mittlerweile sogar die ATP mit einer offiziellen Ermittlung eingemischt. Wie die genau abläuft, dazu hält sich der Verband bedeckt. Sharypova soll nach Sportschau-Informationen bislang noch nicht kontaktiert worden sein. Zverev schweigt seit seinem letzten Statement am Rande der US Open und hatte damals eine einstweilige Verfügung durchgesetzt. Nach der Bekanntgabe der Ermittlungen griffen viele internationale Medien das Thema wieder auf. Zverev wird von allen Seiten kritisch beäugt.

Ganz neutral betrachtet muss das immense Kraft kosten. Zverev und sein Team um Bruder Mischa und Freund und Berater Sergej Bubka junior lenken den Fokus aufs Sportliche. Die ATP Finals hat er 2018 gewonnen, besiegte damals nacheinander Roger Federer und eben Djokovic. Die Karriere des Schweizers steht nach einer weiteren Knieverletzung auf der Kippe. Der 40-Jährige fehlt genauso wie Rafael Nadal.

Djokovic, der Gruppenkopf der etwas schwächeren Gruppe um Tsitispas und dem zweiten Debütanten Casper Ruud, hat Zverev dagegen genau im Blick. Nach dem Training am Samstag umarmten sich beide und wünschten sich viel Glück. Ein Wiedersehen im Halbfinale, das wissen beide, ist nicht ausgeschlossen.