Turnen | Mental Health Eli Seitz - ohne mentale Stärke wird Turnen gefährlich

Stand: 11.10.2021 18:37 Uhr

Als Turnerin hat Elisabeth Seitz gelernt, mit Bauchlandungen umzugehen. Stürze vom Stufenbarren können weh tun, meistens vergehen die Schmerzen schnell. Seelische Verletzungen heilen langsamer - oder nie.

Den 6. August 2012 wird Elisabeth Seitz nie vergessen. Olympische Spiele in London. Das Finale der besten acht Turnerinnen am Stufenbarren. 79 Sportlerinnen kämpften in der Qualifikation um einen der begehrten Plätze. Die 18-jährige Eli hat es geschafft, landet am Ende auf Platz sechs. Die 20.000 Zuschauer, darunter Prinz William und Herzogin Kate, feiern und jubeln. Elisabeth Seitz kommt sich vor wie im Märchen. Allein die Finalteilnahme im Zeichen der Olympischen Ringe - ein Traum. Die anschließende Rückkehr ins Mannheimer Turnzentrum - ein Albtraum.

"Soll ich nicht mehr, darf ich nicht mehr - wieso, weshalb, warum?"

In der Sendung SWR Sport in Baden-Württemberg spricht Elisabeth Seitz über die Zeit nach den Spielen in London, als ihr die Trainerin in Mannheim sagte, sie könne aufhören. Das, so Eli, habe ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Turnerinnen können fallen, wenn sie wissen, wo sie landen. Angekommen in Mannheim setzte sich Seitz neue Ziele. "Wenn man dann gesagt bekommt: 'nee, is' nich', dann reißt es einem den Boden unter den Füßen weg."

Von der Trainerin allein gelassen habe sie sich gefragt: "Soll ich nicht mehr, darf ich nicht mehr? Wieso, weshalb, warum? Plötzlich steht man da, alles auf Null, als hätte jemand die Reset-Taste gedrückt." Was Elisabeth Seitz damals runterschluckte, spricht sie heute aus: "Es ging mir total schlecht, ich wusste nicht, wie es weiter gehen soll."

Die Rettung: Mama Claudia. Zu ihr sagte Eli: "Ich möchte unbedingt weiterturnen, das ist mein Leben, das ist meine Leidenschaft." Die Mutter räumte die Stolpersteine in Mannheim aus dem Weg, ermöglichte den Wechsel von Mannheim nach Stuttgart. Heute kümmern sich zwei Sportpsychologinnen um die jungen Turnerinnen am Mannheimer Bundesstützpunkt. Laura Giessing und Lisa-Marie Schütz vom Sportinstitut der Universität Heidelberg, finanziert vom Förderverein der TG Mannheim.

Die gefährliche Furcht vor "twisties"


Großen Respekt hat Elisabeth Seitz vor Simone Biles. Die US-Amerikanerin hatte bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio ihren Wettkampf abgebrochen. Die erfolgreichste Turnerin, unbesiegbar seit vielen Jahren, war eingeknickt. Bei der Landung am Sprung. Eingeknickt, weil der Druck und der Stress zu groß waren. "Wenn die mentale Stärke nicht da ist, wird es gefährlich im Turnen", sagt Elisabeth Seitz. Bruchteile einer Sekunde entscheiden darüber, ob die Bewegung erfolgreich geturnt werden kann. Höhenflug oder Bauchlandung, das Verletzungsrisiko ist groß.

Noch in Tokio hatte Biles darauf hingewiesen, dass sie unter "twisties" leide - eine "Krankheit", die in der Turn Community bekannt ist. Die Furcht vor dem "twist", der Schraubendrehung. Beim Anlauf zum Doppelsalto mit dreifacher Schraube nicht mehr zu wissen, wie man die Bewegung turnen muss - das kann fatale Folgen haben. Turnerinnen berichten auch, ihr Körper würde bei Sprüngen unbewusst eine Schraubendrehung vollziehen. Die Landung: unkontrollierbar. Auch das eine "Blockade", die bei jungen Turnerinnen - unausgesprochen - dazu führen kann, dass sie aufhören zu turnen.

"Im Turnen fängt man sehr früh an, als kleines Kind, man wächst da rein, man wird älter, erwachsener und damit müssen Athlet und Trainer umgehen können", sagt Seitz heute. Das sei bei ihr damals schwierig gewesen, deshalb sei es gut, dass nun darüber gesprochen wird. "Wenn sich die Turnerinnen entwickeln und verändern, dann müssen das die Trainer auch."

In drei Wochen feiert Eli Seitz wieder - ihren 28. Geburtstag. Aus der Schülerin wurde eine Studentin und eine Sportsoldatin - und die erfolgreichste deutsche Turnerin. WM-Bronze am Stufenbarren, drei Teilnahmen bei Olympischen Spielen. Und Eli schielt mit einem Auge nach München. Dort finden im kommenden Jahr die European Championships statt - 50 Jahre nach den Olympischen Spielen von 1972.