Bundesliga | Relegation Bundesliga-Relegation: Hertha feiert blau-weißes Wunder

Stand: 24.05.2022 06:53 Uhr

Als niemand mehr daran glaubt, zieht Hertha BSC noch einmal den Kopf aus der Schlinge. Der Relegationssieg über den HSV rettet eine verkorkste Bundesliga-Saison in letzter Sekunde. Dabei hatte Felix Magath die Mannschaftsaufstellung quasi Kevin-Prince Boateng überlassen.

Von Marc Schwitzky

Nach dem Schlusspfiff wird auf beiden Seiten geweint. Den Spielern des Hamburger SV steht die Enttäuschung und Leere ins Gesicht geschrieben, den Aufstieg schmerzhaft knapp verpasst zu haben. Aber auch bei Hertha BSC ist zunächst keine unbändige Freude zu sehen. Spieler wie Dedryck Boyata und Ishak Belfodil liegen von der Erleichterung erschlagen auf dem Boden, die Tränen stehen symbolisch für den Druck, der von ihnen abfällt.
 
Soeben haben die Berliner die Relegation für sich entschieden – und das denkbar dramatisch. Nachdem das Hinspiel im heimischen Olympiastadion von schlotternden Herthaner Beinen und einer verdienten 0:1-Niederlage gezeichnet war, findet die "Alte Dame" im Rückspiel ihr verstaubtes Herz und ihren verlorenen geglaubten Mut wieder.

Hertha schreibt das Drehbuch um

Eben jener Mut spiegelt sich bereits in der Aufstellung, die Trainer Felix Magath wählt, wider. Im Gegensatz zum Hinspiel bringt der 68-Jährige all die Erfahrung und individuelle Klasse auf den Platz, die Herthas Kader nur zur Verfügung steht. Santi Ascacibar, Kevin-Prince Boateng und Stevan Jovetic rücken in die Startelf. Die Marschroute ist klar: Die älteste Hertha-Mannschaft der letzten 15 Jahre soll das jüngste Team der 2. Bundesliga "auffressen".

Es ist ein einfaches Stilmittel, in solch einer Situation aber ein brauchbares. Ein einfaches Stilmittel ist auch der ruhende Ball. Magath beschwört die Paradedisziplin von Marvin Plattenhardt seit Wochen als eine der größten Waffen Herthas, auch im Vorfeld dieser Begegnung. Und dieser dankt es ihm. Der Eckball Plattenhardts findet den Kopf Boyatas – und plötzlich steht es 1:0 für die Gäste. Ein Tor, das Hertha infolge beflügelt und dem HSV den Kopf verdreht. Nach dem 1:0-Sieg im Hinspiel und nun vor eigener Kulisse ist ein völlig anderes Drehbuch geplant gewesen. Dass es nicht dazu kommt, lässt die Rothosen sichtlich zweifeln.

"Kein Larifari, sondern voll Druck"

So diktiert Hertha den ersten Durchgang nach Strich und Faden. Zum einen greift das neue 4-4-2 mit Mittelfeldraute und auffällig hoch stehenden Außenverteidigern perfekt. In jener Formation läuft Hertha den Hamburger Spielaufbau unermüdlich an. Dort hat man die Achillesferse des Gegners ausgemacht.

Mit einer gänzlich anderen Haltung als im Hinspiel – plötzlich stimmen Mut und Aggressivität – nimmt Hertha die Zweikämpfe an. Durch die zwei anlaufenden Stürmer und einen aufgerückten Mittelfeldspieler macht Berlin die Mitte zum eigenen Bezirk. Weicht der HSV daraufhin auf den engen Flügel aus, sind die blau-weißen Pressingfallen dort bereits aufgestellt. So kann sich der Nordklub kaum lösen, immer wieder erzielt Hertha hohe und damit gefährliche Ballgewinne.
 


"Ich habe den Tim-Walter-Fußball in Stuttgart miterlebt – daher war mir klar, dass wir Fehler provozieren können. Deswegen haben wir gesagt, wir machen kein Larifari, sondern voll Druck", erklärt Marc Oliver Kempf. Zum anderen kommt auch die spielerische Klasse von Jovetic, Boateng und Ishak Belfodil zum Tragen. Das offensive Dreiergespann schafft es immer wieder, Bälle gut zu halten, Dreiecke zu stellen und somit Räume im letzten Drittel zu öffnen.

Auch das ist beileibe nicht die hohe Wissenschaft dieses Sports, aber dennoch etwas, das es bei Hertha viel zu selten zu sehen gibt. Durch die bessere Raumaufteilung und ein sauberes Kombinationsspiel kommen Hauptstädter zu überdurchschnittlich vielen Möglichkeiten – nach 35 Minuten sind es mehr als im gesamten Hinspiel.

Plattenhardts Freistoß für die Ewigkeit

So scheint es im zweiten Durchgang, als hätte Hertha sein Pulver schon etwas verschossen. Das ständige hohe Anlaufen, die Körperlichkeit im Zweikampf und das disziplinierte Verschieben verlangen Tribut. Hat der HSV in der ersten Halbzeit noch keinerlei nennenswerte Chance vorzuweisen, entwickelt sich nach dem Pausentee ein deutlich offenerer Schlagabtausch.

Zwischenzeitlich scheint Hertha das Heft des Handelns tatsächlich aus der Hand zu geben. Hertha-Fans verfluchen in diesen Minuten die Hoffnung, die ihnen völlig unerwartet noch einmal geschenkt wurde – sie verbinden sie mit zahllosen Erlebnissen, in der sie nur in Schmerz mündete.

Es ist aber einmal mehr der goldene Fuß des Marvin Plattenhardt, der großes vollbringt. In der 63. Minute tritt der Linksverteidiger zum Freistoß an. Halb rechts, eine gute Position. Eine Position, die meist mit einer Hereingabe endet, aber als Fußball-Fan immer die Hoffnung weckt, dass der Schütze es doch einmal direkt probiert. "Der würde doch nicht."
 
Er würde – und wie. Plattenhardt schenkt dem Ball eine mathematisch schöne Flugkurve, die ihn über Torhüter Daniel Heuer Fernandes ins Tor fallen lässt. 2:0 – ein Traumtor aus dem Nichts. Infolge dessen beginnt der rudimentäre Überlebenskampf. Minuten, die sich wie Stunden anfühlen, zahllose Flanken und Zweikämpfe, eine Angriffswelle nach der anderen. Doch Hertha hält stand, schenkt dem HSV keinen Zentimeter zu viel und bringt das Ergebnis über die Zeit. Mission erfüllt.

Das Real Madrid des kleinen Mannes

Manch einem Zuschauenden wird Herthas Auftritt zu wenig gewesen sein – zu viel K(r)ampf, zu wenig Fußball, zu wenig System. Doch sind das keine neuen Erkenntnisse für die Alte Dame, genau diese Defizite haben sie in die Relegation getrieben. Es musste der Heldenfußball her. Im Hinspiel fehlten die Helden, im Rückspiel stiegen sie alle zu jenen auf. Der Vergleich mit Real Madrid mag vermessen sein, doch niemand verkörpert das Phänomen, nur durch individuelle Qualität, Teamgeist, Mut und einen unzerstörbaren Glauben in den größten Spielen zu außergewöhnlichen Leistungen auszuholen, so gut wie die "Königlichen".
 
Diesen Geist weckt Hertha am Montagabend in sich. Es mag eine alte Idee des Fußballs sein, die gegen die modernen mit ihren Automatismen und ausklügelten Taktiken statistisch unterlegen ist. Doch in diesem einen Spiel kann sie ungeahnte Kräfte freisetzen.

Plötzlich kann ein Boateng das erste Mal in dieser Saison 89 Minuten marschieren; plötzlich verwandelt Plattenhardt den ersten direkten Freistoß seit 2017; plötzlich machen sich Jovetic und Belfodil dreckig; plötzlich ist die sonst so wackelige Viererkette ein undurchdringliches Bollwerk; plötzlich können alle über ihre Schmerzgrenze hinausgehen; plötzlich ist Hertha eine vor Kraft und Einsatz strotzende Gemeinschaft. Heldenfußball, dieses Mal – das entscheidende Mal – mit Helden. "Wir haben nicht aufgegeben, sondern Herz gezeigt. Totgesagte leben eben länger", resümiert Boateng.

Hertha steht vor dem nächsten Umbruch, der nächsten Zeitenwende

Herthas Klassenerhalt ist das vielleicht letzte Meisterstück von Felix Magath, der im März übernommen hatte. "Er hat etwas Außergewöhnliches geleistet. Er hat die Mannschaft zusammenbekommen", lobt ihn Fredi Bobic nach dem Spiel. "Er war unser Retter."
 
Aber: "Er war nicht das Projekt". Magath wird gehen, Präsident Werner Gegenbauer und Geschäftsführer Finanzen Ingo Schiller könnten ihm nach 14 und 21 Jahren folgen. Auch im Profikader wird es viele Abschiede geben. Hertha steht vor dem nächsten Umbruch, der nächsten Zeitenwende.

Von der Euphorie des Klassenerhalts wird schnell wenig bleiben – zu desaströs war der Rest der Saison, zu viele Störfeuer brennen nach wie vor lichterloh, zu groß und zahlreich sind die Fragen zur Zukunft des Vereins. Letztlich wurde nur der Super-GAU verhindert. Die Alte Dame darf kurz durchatmen und sich für den nächsten Sturm wappnen, denn die unruhigen Zeiten scheinen nicht vorbei.

Sendung: Abendschau, 26.06.2022, 19:30 Uhr