Die Sportgymnastin Susann Scheller 1988 in Zinnowitz

Macht und Missbrauch Opfer sprechen über sexualisierte Gewalt im DDR-Sport

Stand: 27.04.2023 12:05 Uhr

Zum Doping im DDR-Sport wurde viel geforscht, doch sexualisierte Gewalt ist bis heute ein blinder Fleck. Auf einer Fachtagung in Schwerin sprachen ehemalige Sportlerinnen und Sportler über ihre Erlebnisse.

Die Rhythmische Sportgymnastik bestimmte Susann Wegners Kindheit und Jugend. 1989, im Alter von 17 Jahren, beendete sie ihre Karriere, weil sie die extremen physischen und psychischen Torturen nicht mehr länger aushielt. Dass sie in dieser Zeit auch Opfer von sexualisierter Gewalt wurde, kam erst Jahrzehnte später durch ein privates Erlebnis wieder hoch. Plötzlich fiel ihr ein Arzt aus dem Trainingslager in Zinnowitz ein: "Ich musste alleine zu ihm in sein dunkles Büro. Die Tür wurde zugemacht. Ich musste mich ausziehen, ich weiß nicht mehr wieviel. Aber er hat mich angefasst, das weiß ich noch." Susann Wegner tauschte sich Jahrzehnte später mit anderen Sportlerinnen aus ihrem damaligen Trainingslager aus und erfuhr, dass alle von ihnen solche diffusen Erinnerungen hatten - oder sogar bis heute Angst und Ekel vor diesem Arzt.

Jugendliche im DDR-Sport waren besonders gefährdet

Tägliche Demütigungen wie "Du bist zu fett", ungewollte Berührungen bei Sportübungen bis hin zu sexuellen Übergriffen durch Trainer - solche Formen von Gewalt gab es auch im westdeutschen Leistungssport. Der Fall des ehemaligen Wasserspringers Jan Hempel zeigt, dass sich der Missbrauch über Jahrzehnte und auch bis ins wiedervereinte Deutschland ziehen konnte. Eine aktuelle Fallstudie zeigt aber, dass Jugendliche im DDR-Sport besonders gefährdet waren.

Die Sportgymnastin Susann Scheller 1988 in Zinnowitz

Susann Wegner in Zinnowitz 1988: "Ich musste mich ausziehen."

Sie seien besonders früh in Sportschulen überwacht und abgeschottet gewesen, sagt Bettina Rulofs von der Deutschen Sporthochschule in Köln: "Auf der einen Seite wollten die Kinder gefallen und etwas für das Regime und die Eltern tun, auf der anderen Seite war die Gefahr groß, bei schlechten Leistungen auch schnell wieder ausgesondert zu werden. Durch diese Abhängigkeit waren sie den Erwachsenen besonders ausgeliefert." Bis heute seien viele Frage zu diesem Thema aber noch offen, so Rulofs. So sei weiterhin unklar, wie viele Menschen im Rahmen des Sports missbraucht worden seien.

Landesbeauftragte Drescher: "Juristische Aufarbeitung ist beendet"

Die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anne Drescher, hat in den vergangenen Jahren schon viele ehemalige DDR-Sportlerinnen und -Sportler beraten, wenn es um das Thema Doping ging. Doch die Gewalt, die ihnen widerfahren ist, sei häufig komplexer. Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt würden die Betroffenen häufig erst beim zweiten oder dritten Treffen erwähnen. Um im Fall von körperlichen und seelischen Spätfolgen Unterstützung und langfristige Therapien zu bekommen, müssten sie sich dann noch mit zahlreichen Formularen, Anträgen und Gutachten befassen - und Beweise liefern.

"Betroffene melden sich bei uns, erzählen uns, was passiert ist und wir schauen, was wir Entlastendes für sie tun können.", erklärt Anne Drescher. "Die Täterfrage steht dann noch auf einem ganz anderen Blatt, denn die juristische Aufarbeitung ist beendet." Auf der Fachtagung beklagten Betroffene außerdem, dass eine Entschuldigung von Verantwortlichen für erlittene Qualen vielfach unterblieben sei. Bis heute wären führende Sportfunktionäre nicht bereit, sich dem Thema zu stellen.

Wegner: "Man sieht überhaupt keine Grenzen mehr"

Für Betroffene, die ihre Gewalterfahrungen schildern, sei es deshalb besonders wichtig, dass ihnen geglaubt werde, so Drescher. Selbst im Austausch haben Susann Wegner und andere ehemalige Sportlerinnen lange gebraucht, um über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu sprechen. Sie haben für sich eine Erklärung gefunden, warum diese traumatischen Erlebnisse erst viel später wieder hochkamen: "Wir waren Kinder, wir haben trainiert und wenn wir Schmerzen hatten, wurde das ignoriert und dann kann man das überhaupt nicht mehr trennen voneinander, ob nun bei Trainern oder Eltern, egal was. Man sieht überhaupt keine Grenzen mehr."

Dieses Thema im Programm:
NDR Fernsehen | Nordmagazin | 26.04.2023 | 19:30 Uhr