
Wintersport | Shorttrack Anna Seidel will zurück in die Weltspitze
Der Name Anna Seidel ist in Deutschland fest mit der Sportart Shorttrack verbunden. Nun steht am Wochenende der erste Wettkampf ihrer nunmehr 10. Weltcup-Saison bevor. Nach Verletzungspech und einem Motivationstief hat sie nun Medaillen-Ambitionen. Doch ihrer zehnten Weltcupsaison drohte noch vor dem Start das Aus.
Vergangenen Sonntag ging das Flugzeug für die Anna Seidel und ihren Trainingskollegen Yanghun Ben Jung in Richtung Kanada, wo für die Shorttracker ab Freitag in Montreal der erste Weltcup der Saison stattfindet.
Trotz schwieriger Monate, die nach einem schweren Trainingssturz geprägt waren von Operationen, Reha und dauerhaften Schmerzen, ist die Vorfreude auf die neue Saison bei der 24-jährigen Dresdnerin ungebrochen: "Ich bin super happy, dass die Entscheidung gefallen ist, dass wir auch wirklich fahren. Das Training war so intensiv und lang. Ich bin einfach glücklich, dass es jetzt losgeht." Im April wurde das störende Metall - ein letztes Überbleibsel des Sturzes - in ihrem Schien- und Wadenbein entfernt. Seitdem konnte sie nahezu schmerzfrei trainieren.
Seidel mit Gedanken an ein Karriereende
Die Physis ist das eine, der Kopf das andere. Das frühe Aus im olympischen Viertelfinale über 1.500 Meter war lange präsent bei der erfahrenen Sportlerin: "Das war sehr schrecklich und intensiv. Ich hatte noch nie so ein Gefühl nach einem Lauf, dass ich mir gewünscht hätte, ich würde jetzt aufwachen. Ich habe mich gefühlt, wie im falschen Film. Ich habe nur gedacht, dass kann jetzt nicht sein, dass ich die letzten vier Jahre auf diesen einen Moment hingearbeitet habe und das jetzt mir passiert."
Ein Erlebnis, das zeigt, wie nah Freud und Leid im Sport beieinanderliegen: "Dieser Sport ist so grausam. Es ist dieser eine Moment und da wird über alles entschieden und dann musst du wieder vier Jahre warten", sagt Seidel und ergänzt ihre Gedanken zu einem möglichen Karriereende: "Ich hatte so viele schöne Jahre, ich will jetzt auch nicht so die Bühne verlassen. Ich hätte schon nochmal gern ein Jahr, dass sich etwas leichter anfühlt. Einfach ohne Schmerzen schön trainieren, deswegen war für mich die Entscheidung klar, dass ich noch ein Jahr weitermache".
Saisonaus drohte wegen Finanzierung
Die neue Saison steht unmittelbar bevor, aber hinter einem Start in Montreal standen bis eine Woche vor Abflug dicke Fragezeichen. Der Grund dafür: Der Deutschen Eisschnelllauf- und Shorttrack-Gemeinschaft fehlten (DESG) die finanziellen Mittel. "Es wurde klar kommuniziert, dass der Verband kein Geld ausgeben kann", so Seidel. Denn das Bundesministerium (BMI) gab Fördermittel nicht frei, die dem Verband für dieses Jahr zugesagt wurden.
Dank einer privaten Lösung steht Seidels Start am Freitag in Montreal und eine Woche später in Salt Lake City (4. bis 6. November) aber nichts im Weg. Seidel selbst sowie ihr Heimatverein, der Eislaufverein Dresden, strecken die notwendigen Mittel für die Weltcup-Reise vor. Riskant, denn es war unklar, ob die Gelder im Laufe der Saison freigegeben werden.
Erst als die Athleten bereits über den Atlantik geflogen waren, gab es offenbar eine Einigung. So teilte die DESG am Donnerstag (28.10.2022) mit, dass die "mehreren Termine in den letzten Wochen" zu einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen geführt haben. "Damit steht fest, dass die Teilnahme qualifizierter Athletinnen und Athleten aus den Bereichen Eisschnellauf und Shorttrack an internationalen Wettkämpfen, wie der Weltcup-Serie, gesichert ist", so der Verband.
Saisonziele: Top Ten in der Welt und europäisches Edelmetall
Derartiger Unwegsamkeiten zum Trotz sind die Ziele der erfolgreichen Dresdnerin für diesen Winter klar. Nach einem Motivationstief meldete sich Seidel mit einem starken dritten Platz über 1.000 Meter bei den Dutch Open in Heerenveen im Oktober zurück. Dass sie die schwere Trainingsverletzung aus dem März 2021 körperlich und mental so gut überwunden hat, verdankt sie auch der intensiven Arbeit mit Sportpsychologen sowie langen Gesprächen mit Freunden und der Familie abseits des Leistungssports.
Körperlich ist sie zurück auf einem starken Niveau und bereit anzugreifen. Die Saisonhöhepunkte sind ganz klar die Europameisterschaften in Danzig im Januar (13. bis 15. Januer 2023) und die Weltmeisterschaften in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul (10. bis 12. März 2023). Besonders Danzig ist im positiven Sinne noch sehr präsent bei der Dresdnerin.
Danzig ist ein gutes Pflaster für Seidel
Bei der EM im vergangenen Jahr, die ebenfalls in Danzig stattfand, holte Seidel drei Medaillen. An dieses Karrierehoch möchte sie dieses Jahr gern anknüpfen und hegt für die kontinentalen Titelkämpfe definitiv Medaillenambitionen. Damit diese Träume überhaupt zu realisieren sind, müssen die Bedingungen stimmen. Und das tun sie in Dresden, dem einzigen Bundesstützpunkt für Shorttrack in Deutschland.
Aber die Konkurrenz schläft nicht. Besonders durch die extrem starken Holländerinnen wird es alles andere als leicht, aber: "Es ist eigentlich alles möglich, wenn ich weiter so trainieren kann", sagt Seidel selbstbewusst. Unterstützen soll dabei erneut die Sportpsychologie. Die Visualisierung guter Läufe soll bei zukünftigen Starts helfen, deswegen versucht die Shorttrackerin sich insbesondere an die letzte EM zu erinnern und die Details ihrer Medaillen-Läufe zu verinnerlichen.
Seidel will Saison mit Spaß am Sport begehen
Seidel bleibt zwischen den ersten beiden Weltcups in Montreal und Salt Lake City in den Staaten und wird sich gemeinsam mit dem amerikanischen Nationalteam auf die weiteren Weltcup-Einsätze vorbereiten. Sie ist dankbar für solche Möglichkeiten und den internationalen Austausch mit den starken Frauen im amerikanischen Team.
Neben vorderen Platzierungen und EM-Medaillen klingen ihre Wünsche für die aktuelle Saison fast schon bescheiden: "Ich wünsche mir auf jeden Fall Leichtigkeit und dass ich es wirklich genieße, Rennen zu laufen. Das ist so ein bisschen verloren gegangen durch den Druck von Olympia und das fit werden müssen. Ich wünsche mir, dass ich wieder Spaß an diesem Sport habe und meine Leidenschaft zurückfinde", so Seidel.